42) Seltsame Geschichten über moralische Mitbürger und die guten alten
Zeiten
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Seltsame Geschichten über moralische Mitbürger
und die guten alten Zeiten
In einem ländlichen Städtchen von 3 000
Einwohnern, mit einer schönen großen Kirche aus gotischer Zeit war der
Pfarrer ein Mann um die 50 Jahre alt mit einem großen Bauch und dünnen
Beinen. Die Dünne seiner Beine ließ ihn nur noch größer als 1.90 erscheinen.
Er fuhr einen roten Porsche, was vielen nicht gefiel. Mehrere wollen ihn
sogar bei Prostituierten gesehen haben. Ich aber denke, dass es wesentlich
ehrlicher war, sein Leben auf diese Weise zu genießen, als sich an kleinen
Jungen während des Ministranten Dienstes zu vergreifen.
Eine meiner Tanten war Nonne und als ich sie mit
6 Jahren einmal fragte, warum sie in einen religiösen Orden eingetreten sei,
bekam ich die Antwort, dass sie der Tod ihres Vaters, also meines Großvaters,
so erschüttert habe, dass sie sich entschloss ihr Leben Gott zu widmen. Die
versammelte Verwandtschaft senkte die Köpfe, vielleicht aus Zustimmung. Auf
der nach Hause Fahrt erwähnte ich diese traurige Geschichte noch einmal,
wobei meine Mutter, also die Schwester meiner Tante, mir zynisch ins Gesicht
flüsterte: „Du darfst der nicht alles glauben. Die wurde nur von einem Mann
verlassen.“ So etwas nennt man echte Schwesternliebe.
Die alte Nachbarin war schon über 90 und hatte
den ersten Weltkrieg als Kind und den zweiten als Mutter von schon 3 Kindern
miterlebt. Am Ende waren es dann 5 oder 6 Kinder gewesen. Wenn man sie über
die Kriegs- und Nachkriegszeit fragte, erzählte sie immer von großer Not und
Hunger. Die Bücher über diese Zeit sah sie nicht gern in unseren Händen.
Einmal fragten wir sie für wen sie denn 1933 gestimmt habe. Die Antwort kam
prompt und entschieden: „Natürlich für die NSDAP, wie jeder anständige
Deutsche!“ (NSDAP = Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei / Hitlers
Partei)
Meine Großmutter war eine sehr gutherzige und
religiöse Frau. Solange sie ihre Beine trugen, ging sie jeden Sonntag zu Fuß
in die Kirche, als sie sich später nur noch schwer und mit Stock bewegen
konnte, hörte sie die Sonntagsmesse im Radio. Für die Familie tat sie alles
und so verbrachte ich, ein uneheliches Kind, mein erstes Lebensjahr bei ihr,
bis meine Mutter einen neuen Mann gefunden hatte. Manchmal erzählte sie auch
über die guten, alten Zeiten. Später verbrachte ich auch oft einen Teil der
Sommerferien bei ihr. Die Siedlung war klein und es gab wenig Verkehr, so
dass dort alle Kinder auf der Sackgasse zusammenspielen konnten. Am Abend,
wenn es dunkel wurde, wurden dann alle Kinder von Eltern und Großeltern nach
Hause gerufen. Das klang meist so: „Kommt herein! Bald kommt der Jude,
sammelt die unfolgsamen Kinder ein und nimmt sie mit, um sie zu fressen.“ Die
geübteren von uns hatten darauf die passende Antwort: „Hitler hat doch das
Problem schon gelöst!“ Worauf alle, auch die alten herzlich lachten.
Mein Geschichtslehrer im Gymnasium war der Sohn
eines am Ende des 2. Weltkrieges nach Argentinien geflüchteten Deutschen und
hatte als solcher seine ersten Lebensjahre in Südamerika verbracht und von
dort sehr viele seiner Ansichten mitgebracht. Seine Witze waren deshalb
manchmal ziemlich morbid. Einer davon klang wie folgt: „Früher sangen wir
‘Deutschland über alles in der Welt‘, heute sagen wir ‘Deutsche überall in
der Welt‘.“
Er saß in der Vorhalle des Amtes und wartete
darauf, von einem Beamten in eines der Büros gerufen zu werden, um seinen
Fall, das Erbe seines Großvaters zu regeln. Eine Tür ging auf und ein Kopf
mit Brille schaute heraus: „ Herr Kovács, bitte!“ Er erhob sich und folgte
dem Beamten in das Büro. „Setzen Sie sich, bitte!“ Und der Staatsdiener wies
auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. Er setzte sich und
schaute hoffnungsvoll auf den Beamten, der sich wieder in die vor ihm
liegende Akte vertieft hatte. „Wir können Ihrem Ersuchen leider nicht
stattgeben, weil Ihr Großvater den Bauernhof 1944 als Belohnung für die
Anzeige eines Mitbürgers erhalten hat, der Juden in seinem Dachboden
versteckt hatte.“ Wieder war ein Stück Vergangenheitsillusion zerplatzt. Er
interessierte sich eigentlich nicht für Geschichte oder Politik, vor allem
seit er erfahren hatte, dass sein Vater während des kommunistischen Systems
ein Spitzel gewesen war und er selbst jetzt gerade dem neuen Nationalregime
diente. „Alle wollen überleben,“ dachte er und „wenn möglich, gut überleben.“
Was kümmerte ihn, was die Leute nach seinem Tod über ihn erzählen. Nur sein
eigener Sohn machte ihm Sorgen. Wird auch er einmal „Opportunistenkind“
geschimpft werden.
Eine Unterführung und Haltestelle der U-Bahn in
der Innenstadt. Es ist Sommer,
morgens 4 Uhr, viele Halbbetrunkene, die von der
letzten Party übriggeblieben sind.
6 Uhr: Der Arbeitstag hat schon begonnen.
Verschlafene Arbeitergesichter. Und auch die Kirchen sind da. Sie haben ihre
Stände aufgebaut und versuchen, mit ihrem Gesang verlorene Schafe anzuziehen.
Schüler gehen in die Schule.
9 Uhr: Die ersten Touristen kommen und geben den
Kirchen Geld, weil das zu ihrer wohlhabenden Kultur gehört, obwohl diese
eigentlich nicht sammeln. Aber Geld kann man immer gebrauchen.
10 Uhr: Gut Angezogene und Geschminkte. Sie gehen
einkaufen. 12 Uhr: Büroangestellte gehen zum Mittagessen. Ab 14 Uhr: Schüler
gehen nach Hause oder treffen Freunde. 17 Uhr: Die Angestellten gehen nach
Hause und mit ihnen werden auch die letzten kleinen Stände der Kirche
abgebaut. 19 Uhr: langsam beginnt das Abend- und Nachtleben. Im Winter: Es
ist kalt. Immer mehr Obdachlose bevölkern die Unterführung, aber die Stände
der Kirchen bleiben aus. Wo es Leute ohne Geld gibt, verschwinden die
Kirchen. Sie müssen ja auch von etwas leben. Und die wirklich helfenden
Kirchen machen für sich in der Unterführung keine Werbung.
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Else
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Sonntag, 26. Juli 2020
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