124) die Stimme der Zeit I
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Die Stimme der Zeit I
„Du bist also so einer, der
sich immer nach den guten, alten Zeiten sehnt.“ – „Natürlich! Schau dir doch
an, wie die Welt heute aussieht! Und du als Engel müsstest dir noch viel mehr
wünschen, dass die alten Zeiten wiederkommen. Damals glaubten die Leute noch
an dich, verehrten dich, bauten dir Tempel, beteten zu dir.“ –
„Entschuldigung, aber ich bin kein Engel, sondern die Stimme der Zeit.“ –
„Hat nicht auch die Zeit jemand geschaffen?“ – „Wenn ich dir das jetzt
erklärte, glaubtest du mir sowieso nicht.“ – „Bring mich in die alten Zeiten!
Ich will hier nicht mehr leben.“ – „In Ordnung!“
Kaum hatte die Stimme
ausgesprochen, befand sich unser Held im alten Ägypten. Ein schneidender
Schmerz lief ihm über den Rücken, als ihn die Peitsche des Aufsehers traf, weil
er mit den anderen den tonnenschweren Steinklotz nicht schnell genug zog.
Neben dem Weg sah er ein paar Skelette von Arbeitern, die die Strapaze nicht
überlebt hatten.
Endlich bei der Pyramide
angekommen wurde dieses letzte Glied in die Pyramide eingefügt, sie sollte
den Eingang verstecken. „Oh, Gott! Wie komme ich jetzt wieder raus?“ – „Du
musst hier bleiben, damit du niemandem den Eingang verraten kannst.“ – schrie
ihn der Aufseher an. „Stimme der Zeit! Bitte, rette mich!“
„Huh, das war aber knapp!
Wir müssen ja nicht gleich ganz so weit zurückgehen.“ – „Was hat dir dort
nicht gefallen? Diese Leute waren sogar bereit, für ihren Glauben und Gott zu
sterben.“ – „Aber ich will nicht sterben. Für niemanden! Auch nicht für einen
Gott!“
„Bist du jetzt noch immer
der Überzeugung, dass es früher besser war?“ – „Naja, früher, da ehrte man
die Alten, den Lehrer, den Offizier, den Pfarrer, den Bürgermeister, den
König. Alle diese Würdenträger flößten den einfachen Leuten noch Respekt ein.
Rang und Ordnung herrschten im ganzen Land. Die Hierarchie bestimmte jedem
seinen Platz in der Gesellschaft. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Die
heutige Jugend kennt das nicht mehr, die denken wirklich, dass sie nichts
mehr respektieren müssen.“ – „In Ordnung, wir werden uns die ganze Sache
einmal genauer ansehen!“
Und mit diesen Worten
befanden sie sich auch schon am Rande eines kleinen Dorfes bei der
Feldarbeit. Männer und Frauen halfen bei der Ernte. Es wurde gesungen und
gelacht, manche waren still, aber die Arbeit ging gut voran. Unser Held
unterhielt sich angeregt mit einem hübschen Mädchen. Am nächsten Sonntag
sollten die beiden heiraten. Oh, wie schön die Liebe ist! Ein ganzes Jahr
hatte die ganze Dorfgemeinschaft dem jungen Paar beim Aufbau ihres neuen
Heimes geholfen. Sogar der Landherr hatte seinen Teil dazugegeben.
Dann kam endlich der
glückliche Tag. Als das frischvermählte Paar aus der Kirche trat, wurden sie
von allen Seiten mit Blumen beworfen. Dann stieg die Braut allein in eine
kleine Kutsche. „Warum darf ich nicht zu ihr gehen?“ – „Das ist das Recht der
ersten Nacht des Landherrn, er muss ihr doch die Jungfräulichkeit nehmen!“ –
„Aber muss ich deshalb unbedingt meine Liebe mit ihm teilen?“
„Beruhige dich! Wir sind
wieder in der Gegenwart.“ – „Es war schrecklich! Welches Recht hat so ein
aufgeblasener Fettwamst, die Frauen von anderen zuerst auszuprobieren?“ –
„Das gehört zum Respekt gegenüber der Obrigkeit, alles hat seinen Rang und
seine Ordnung!“ – „Nein, nein! Das geht zu weit! Das will ich nicht!“
„Was ist jetzt deine
Meinung?“ – „Es gibt noch sehr viele Dinge, die mir in der heutigen Zeit
nicht gefallen, zum Beispiel das traditionelle Familienleben. Heute wissen
Frau und Mann nicht mehr, wer die Hosen trägt. Wenn zwei Pferde vor eine
Kutsche gespannt sind, bestimmt auch eines die Richtung, sie können doch
nicht das eine nach links und das andere nach rechts gehen! Außerdem ist es
in einer Ehe öfter der Mann, der das tägliche Brot verdient. Und schließlich
wählen sich die Frauen meist keinen Hungerleider aus.“
„Wo bin ich jetzt?“ – „Schau
in den Spiegel!“ – „Oh! Warum das? Warum hast du mich in eine Frau
verwandelt?“ – „Wer würde dir garantieren, dass du gerade als Mann oder gar
Fürst zur Welt gekommen wärest. Diese hatten natürlich ihren Spaß, aber man
muss diese Dinge auch einmal von der anderen Seite erfahren.“ Er schaute sich
noch einmal genauer in den Spiegel. „Eigentlich bin ich ganz hübsch, und hier
das spanische Kleid mit einem Fächer.“ – „Oh, core mio….“ unter dem Balkon
begleitet sich ein Troubadour auf der Gitarre. „Das gilt mir! Ich werde ihm
eine Rose hinunterwerfen.“ Er/Sie kommt zurück. „Jetzt ist er verschwunden.“
– „Vielleicht wollte er lieber Geld bekommen.“ Er/Sie sieht auf den kleinen
Tisch vor dem Spiegel. „Hier ist ein Brief!“ Er/Sie bricht das Siegel auf und
liest. – „Mein Herz! Ich erwarte dich nach Einbruch der Dunkelheit hinter dem
Rosenbusch im Garten! Dein Herz, Ricardo!“ Er/Sie drückt den Brief an
sein/ihr Herz. „Siehst du, wie glücklich die Frauen damals waren, als noch
richtige Helden für sie schwärmten!“ – Der Vater kommt herein. – „Meine
Tochter! Ich muss mit dir sprechen. Du bist jetzt schon vierzehn Jahre alt
und es ist Zeit, dass ich dich verheirate. Der wohlhabende Hernandez bezeugte
sein Interesse für dich, als ihm ein Gemälde über dich gezeigt wurde.“ –
„Aber Vater! Ich habe ihn doch noch nie gesehen. Woher soll ich wissen, ob
ich ihn lieben kann?“ – „Liebe gibt es nur in der Oper. In Wirklichkeit ist
Liebe eine Gewohnheit, die entsteht, wenn Mann und Frau sehr lange zusammen sind.
Wir begeben uns sofort zur Kirche. Ich will keine Widerrede hören!“
weiter zu Teil 2 |
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Dienstag, 18. August 2020
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