Dienstag, 18. August 2020

124) die Stimme der Zeit I
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Die Stimme der Zeit I

„Du bist also so einer, der sich immer nach den guten, alten Zeiten sehnt.“ – „Natürlich! Schau dir doch an, wie die Welt heute aussieht! Und du als Engel müsstest dir noch viel mehr wünschen, dass die alten Zeiten wiederkommen. Damals glaubten die Leute noch an dich, verehrten dich, bauten dir Tempel, beteten zu dir.“ – „Entschuldigung, aber ich bin kein Engel, sondern die Stimme der Zeit.“ – „Hat nicht auch die Zeit jemand geschaffen?“ – „Wenn ich dir das jetzt erklärte, glaubtest du mir sowieso nicht.“ – „Bring mich in die alten Zeiten! Ich will hier nicht mehr leben.“ – „In Ordnung!“
Kaum hatte die Stimme ausgesprochen, befand sich unser Held im alten Ägypten. Ein schneidender Schmerz lief ihm über den Rücken, als ihn die Peitsche des Aufsehers traf, weil er mit den anderen den tonnenschweren Steinklotz nicht schnell genug zog. Neben dem Weg sah er ein paar Skelette von Arbeitern, die die Strapaze nicht überlebt hatten.
Endlich bei der Pyramide angekommen wurde dieses letzte Glied in die Pyramide eingefügt, sie sollte den Eingang verstecken. „Oh, Gott! Wie komme ich jetzt wieder raus?“ – „Du musst hier bleiben, damit du niemandem den Eingang verraten kannst.“ – schrie ihn der Aufseher an. „Stimme der Zeit! Bitte, rette mich!“
„Huh, das war aber knapp! Wir müssen ja nicht gleich ganz so weit zurückgehen.“ – „Was hat dir dort nicht gefallen? Diese Leute waren sogar bereit, für ihren Glauben und Gott zu sterben.“ – „Aber ich will nicht sterben. Für niemanden! Auch nicht für einen Gott!“
„Bist du jetzt noch immer der Überzeugung, dass es früher besser war?“ – „Naja, früher, da ehrte man die Alten, den Lehrer, den Offizier, den Pfarrer, den Bürgermeister, den König. Alle diese Würdenträger flößten den einfachen Leuten noch Respekt ein. Rang und Ordnung herrschten im ganzen Land. Die Hierarchie bestimmte jedem seinen Platz in der Gesellschaft. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Die heutige Jugend kennt das nicht mehr, die denken wirklich, dass sie nichts mehr respektieren müssen.“ – „In Ordnung, wir werden uns die ganze Sache einmal genauer ansehen!“
Und mit diesen Worten befanden sie sich auch schon am Rande eines kleinen Dorfes bei der Feldarbeit. Männer und Frauen halfen bei der Ernte. Es wurde gesungen und gelacht, manche waren still, aber die Arbeit ging gut voran. Unser Held unterhielt sich angeregt mit einem hübschen Mädchen. Am nächsten Sonntag sollten die beiden heiraten. Oh, wie schön die Liebe ist! Ein ganzes Jahr hatte die ganze Dorfgemeinschaft dem jungen Paar beim Aufbau ihres neuen Heimes geholfen. Sogar der Landherr hatte seinen Teil dazugegeben.
Dann kam endlich der glückliche Tag. Als das frischvermählte Paar aus der Kirche trat, wurden sie von allen Seiten mit Blumen beworfen. Dann stieg die Braut allein in eine kleine Kutsche. „Warum darf ich nicht zu ihr gehen?“ – „Das ist das Recht der ersten Nacht des Landherrn, er muss ihr doch die Jungfräulichkeit nehmen!“ – „Aber muss ich deshalb unbedingt meine Liebe mit ihm teilen?“
„Beruhige dich! Wir sind wieder in der Gegenwart.“ – „Es war schrecklich! Welches Recht hat so ein aufgeblasener Fettwamst, die Frauen von anderen zuerst auszuprobieren?“ – „Das gehört zum Respekt gegenüber der Obrigkeit, alles hat seinen Rang und seine Ordnung!“ – „Nein, nein! Das geht zu weit! Das will ich nicht!“
„Was ist jetzt deine Meinung?“ – „Es gibt noch sehr viele Dinge, die mir in der heutigen Zeit nicht gefallen, zum Beispiel das traditionelle Familienleben. Heute wissen Frau und Mann nicht mehr, wer die Hosen trägt. Wenn zwei Pferde vor eine Kutsche gespannt sind, bestimmt auch eines die Richtung, sie können doch nicht das eine nach links und das andere nach rechts gehen! Außerdem ist es in einer Ehe öfter der Mann, der das tägliche Brot verdient. Und schließlich wählen sich die Frauen meist keinen Hungerleider aus.“
„Wo bin ich jetzt?“ – „Schau in den Spiegel!“ – „Oh! Warum das? Warum hast du mich in eine Frau verwandelt?“ – „Wer würde dir garantieren, dass du gerade als Mann oder gar Fürst zur Welt gekommen wärest. Diese hatten natürlich ihren Spaß, aber man muss diese Dinge auch einmal von der anderen Seite erfahren.“ Er schaute sich noch einmal genauer in den Spiegel. „Eigentlich bin ich ganz hübsch, und hier das spanische Kleid mit einem Fächer.“ – „Oh, core mio….“ unter dem Balkon begleitet sich ein Troubadour auf der Gitarre. „Das gilt mir! Ich werde ihm eine Rose hinunterwerfen.“ Er/Sie kommt zurück. „Jetzt ist er verschwunden.“ – „Vielleicht wollte er lieber Geld bekommen.“ Er/Sie sieht auf den kleinen Tisch vor dem Spiegel. „Hier ist ein Brief!“ Er/Sie bricht das Siegel auf und liest. – „Mein Herz! Ich erwarte dich nach Einbruch der Dunkelheit hinter dem Rosenbusch im Garten! Dein Herz, Ricardo!“ Er/Sie drückt den Brief an sein/ihr Herz. „Siehst du, wie glücklich die Frauen damals waren, als noch richtige Helden für sie schwärmten!“ – Der Vater kommt herein. – „Meine Tochter! Ich muss mit dir sprechen. Du bist jetzt schon vierzehn Jahre alt und es ist Zeit, dass ich dich verheirate. Der wohlhabende Hernandez bezeugte sein Interesse für dich, als ihm ein Gemälde über dich gezeigt wurde.“ – „Aber Vater! Ich habe ihn doch noch nie gesehen. Woher soll ich wissen, ob ich ihn lieben kann?“ – „Liebe gibt es nur in der Oper. In Wirklichkeit ist Liebe eine Gewohnheit, die entsteht, wenn Mann und Frau sehr lange zusammen sind. Wir begeben uns sofort zur Kirche. Ich will keine Widerrede hören!“

weiter zu Teil 2


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