Samstag, 15. August 2020

120) III) Guten Morgen
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III) Guten Morgen

„Du hast Recht, wenn du sagst, dass jeder diesen Kampf selbst ausfechten muss, aber der größte Schritt ist wahrscheinlich nicht einmal die Selbstemanzipation.“ – „Wie verstehst du das? Ist nicht jeder für sich selbst sein größtes Hindernis?“ – „Es ist doch ein Unterschied, ob dir jemand hilft, sich gleichgültig verhält oder dir Steine in den Weg legt. Sehr viele, die den Sprung aus der Dunkelheit in die Freiheit geschafft haben, sind stolz und glücklich, über anderen zu stehen, nicht mehr die letzten zu sein, und sehr darauf bedacht, ihre Position, gegen alles, was von unten nach oben strebt, gegen die Oberen hätten sie ja sowieso keine Chance, zu schützen. Alle haben den Wunsch, etwas Besseres als ihr nächster zu sein.“ – „Du bist zwar kein Psychologe, aber ein sehr guter Beobachter. Diese Beschreibung gilt auch für die türkische Gesellschaft. Als ob sie alle eine Rangordnung, eine Hierarchie brauchen würden.“ – „Wenn du dich nicht mit oder in dir selbst bestimmen kannst, beginnst du Vergleiche anzustellen.“ – „Dann baust du deine Selbstbestimmung wegen fehlenden Selbstvertrauens auf der Unterdrückung anderer auf.“ – „Wie bringt man jemanden dazu, unabhängig zu denken und handeln? Wie war das bei dir?“ – „Es genügt nicht, sich anderen gegenüber liberal zu verhalten. Der Liberalismus besteht grundsätzlich eigentlich nur darin, sich nicht mit anderen zu beschäftigen. Du musst ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst zu entfalten. Du musst sie darauf aufmerksam machen, wozu sie fähig sind. Mir zum Beispiel haben verschiedene Lehrer geholfen. Das war viel Arbeit mit kleinen Schritten und Erfolgen. Sie halfen mir, langsam ein Selbstvertrauen aufzubauen.“ – „Hm! Der Liberalismus war anfänglich eine Freiheitsbewegung gegen Adel und neureiche Bürger und veraltete Gesellschaftsnormen. Auf allen Gebieten der Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft.“ – „Sie behinderten andere nicht, aber sie versuchten auch nicht, anderen zu helfen. Alle sprinteten sie den Berg hinauf, einige waren erfolgreich. Aber sie ließen die Massen zurück und verloren den Kontakt zu ihnen.“ – „Und so kamen dann Populisten, die diesen Zurückgebliebenen irgendeine Hoffnung in Form eines ideologischen Blödsinns eintrichterten.“ – „Ich weiß, was du denkst. Auch du bist enttäuscht. Nicht weil du zurückgeblieben wärest, sondern weil du keine Lust hast, dich mit anderen abzugeben. Eigentlich bist du faul und möchtest deine Zeit nur mit Sachen verbringen, die dich inspirieren. Aber du kannst nicht aussteigen, selbst wenn du dich auf einer einsamen Insel verstecken würdest.“ – „Was soll ich tun? Eine Revolution anzetteln?“ – „Du bist kein Egoist, sondern nur ein Einsiedler, sprichst gern mit Leuten, aus diesen Gesprächen und Beobachtungen schöpfst du deine Ideen, brauchst aber viel Zeit für dich selbst. Eine Familie kannst du nicht gründen, dazu bist du nicht der Richtige. Du bist geboren, ein Licht in der Ferne, ein Symbol zu sein.“ – „Du bist wenigstens ein genauso guter Beobachter, wie ich. Aber was willst du dann mit mir?“ – „Ich möchte mich nicht von dir heiraten lassen, oder mich mit dir verheiraten. Dafür suche ich mir einen anderen. Aber bevor ich mich für einen entscheide, brauche ich noch ein bisschen Unterricht, Hoffnung und Licht. Vielleicht erziehe ich mein Kind oder Kinder auch allein.“ – „Wäre das das Ergebnis meines Liberalismus? Der Mensch würde am Ende vereinsamt leben und sterben.“ – „Ich sehe die Sache oder Zukunft nicht ganz so schwarz. Was ist natürlich? Bei den Menschenaffen gibt es ein Männchen dem alle Weibchen folgen. In Nepal haben mehrere Männer gemeinsam eine Frau, weil sie sie nur so ernähren können. Aber erst seit der Mensch die Möglichkeit hat, sich zurückzuziehen, nachzudenken, um dann wieder mit anderen zusammenzukommen, um diese Gedanken auszutauschen, geht die Entwicklung immer schneller voran. Er sitzt wie ein Huhn auf seinen Ideen und brütet sie aus. Aber daran muss sich der Mensch natürlich zuerst gewöhnen.“ – „Naja, er hat sich daran gewöhnt, im Dorf, später in der Stadt oder im Staat zu leben. Natürlich oder normal ist, was wir gerade haben. Ein heutiger Mensch würde in einer mittelalterlichen Gesellschaft seelisch zugrunde gehen.“
„Aber sag mal! Du möchtest deine Kinder allein erziehen, allein leben. Das klingt fast wie eine Emanze!“ – „Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, wäre ich jetzt vielleicht enttäuscht. In einer liberalen Gesellschaft kann jeder so leben, wie es ihm beliebt. Der eine ist homosexuell, der andere braucht eine unterwürfige Frau, oder sie braucht einen richtigen Macho, der ihr jeden Abend so wirklich den Hintern versohlt. Jeder soll bekommen, was er oder sie will. Besonders aus den neuen, osteuropäischen Mitgliedstaaten kommen sehr viele sowohl Männer, als auch Frauen. Die Frauen dieser Länder passen sich besser an die neue Umgebung an, merken sehr schnell, dass der westeuropäische Mann meist keine Emanze, aber auch keine Sklavin haben will. Der osteuropäische Mann dagegen scheint, nichts gelernt zu haben. Einem Goethe kann ich es nicht mehr übel nehmen, wenn er vor zweihundert Jahren seinem Faust in den Mund legte: „Liebe Margarethe, wenn du nicht willst, so gebrauche ich Gewalt!“ Vor allem weil er damit wahrscheinlich nur ausdrücken wollte, dass er sie über alles begehrte, aber ihr niemals wehtun würde. Diese Männer aus Osteuropa wiederum versuchen auch gar nicht, die hiesigen Frauen zu verstehen, und sind dann empört, wenn sie zurückgewiesen werden. Danach erzählen sie allen möglichen Blödsinn über westliche Frauen. Das geht vom ‘Sie seien prüde.‘ bis zu ‘Die wissen gar nicht, was eine richtige Familie sei.‘“ – „Aber was für eine Lösung siehst du?“ – „Du würdest natürlich am liebsten alles stehen und liegen lassen und einfach aussteigen. Aber da kannst du sicher sein, dass es dich einholt. Das extremste sind Zusammenstöße zwischen verschiedenen Volksgruppen. In sehr vielen Städten und Ländern gibt es Ghettos. Die Reichen und Mittelständischen begeben sich nicht dorthin, weil sie Angst haben. In ihren eigenen Wohnbezirken haben sie an jeder Ecke Kameras und Sicherheitspersonal. Dort fristen sie ihre Tage, wie in einem Luxusgefängnis, und merken nicht, dass das auch für sie selbst nicht mehr gut ist.“



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