120) III) Guten Morgen
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III) Guten Morgen
„Du hast Recht, wenn du
sagst, dass jeder diesen Kampf selbst ausfechten muss, aber der größte
Schritt ist wahrscheinlich nicht einmal die Selbstemanzipation.“ – „Wie
verstehst du das? Ist nicht jeder für sich selbst sein größtes Hindernis?“ –
„Es ist doch ein Unterschied, ob dir jemand hilft, sich gleichgültig verhält
oder dir Steine in den Weg legt. Sehr viele, die den Sprung aus der
Dunkelheit in die Freiheit geschafft haben, sind stolz und glücklich, über
anderen zu stehen, nicht mehr die letzten zu sein, und sehr darauf bedacht,
ihre Position, gegen alles, was von unten nach oben strebt, gegen die Oberen
hätten sie ja sowieso keine Chance, zu schützen. Alle haben den Wunsch, etwas
Besseres als ihr nächster zu sein.“ – „Du bist zwar kein Psychologe, aber ein
sehr guter Beobachter. Diese Beschreibung gilt auch für die türkische
Gesellschaft. Als ob sie alle eine Rangordnung, eine Hierarchie brauchen
würden.“ – „Wenn du dich nicht mit oder in dir selbst bestimmen kannst,
beginnst du Vergleiche anzustellen.“ – „Dann baust du deine Selbstbestimmung
wegen fehlenden Selbstvertrauens auf der Unterdrückung anderer auf.“ – „Wie
bringt man jemanden dazu, unabhängig zu denken und handeln? Wie war das bei
dir?“ – „Es genügt nicht, sich anderen gegenüber liberal zu verhalten. Der
Liberalismus besteht grundsätzlich eigentlich nur darin, sich nicht mit
anderen zu beschäftigen. Du musst ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst zu
entfalten. Du musst sie darauf aufmerksam machen, wozu sie fähig sind. Mir
zum Beispiel haben verschiedene Lehrer geholfen. Das war viel Arbeit mit
kleinen Schritten und Erfolgen. Sie halfen mir, langsam ein Selbstvertrauen
aufzubauen.“ – „Hm! Der Liberalismus war anfänglich eine Freiheitsbewegung
gegen Adel und neureiche Bürger und veraltete Gesellschaftsnormen. Auf allen
Gebieten der Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft.“ – „Sie behinderten andere
nicht, aber sie versuchten auch nicht, anderen zu helfen. Alle sprinteten sie
den Berg hinauf, einige waren erfolgreich. Aber sie ließen die Massen zurück
und verloren den Kontakt zu ihnen.“ – „Und so kamen dann Populisten, die
diesen Zurückgebliebenen irgendeine Hoffnung in Form eines ideologischen
Blödsinns eintrichterten.“ – „Ich weiß, was du denkst. Auch du bist
enttäuscht. Nicht weil du zurückgeblieben wärest, sondern weil du keine Lust
hast, dich mit anderen abzugeben. Eigentlich bist du faul und möchtest deine
Zeit nur mit Sachen verbringen, die dich inspirieren. Aber du kannst nicht
aussteigen, selbst wenn du dich auf einer einsamen Insel verstecken würdest.“
– „Was soll ich tun? Eine Revolution anzetteln?“ – „Du bist kein Egoist,
sondern nur ein Einsiedler, sprichst gern mit Leuten, aus diesen Gesprächen
und Beobachtungen schöpfst du deine Ideen, brauchst aber viel Zeit für dich
selbst. Eine Familie kannst du nicht gründen, dazu bist du nicht der
Richtige. Du bist geboren, ein Licht in der Ferne, ein Symbol zu sein.“ – „Du
bist wenigstens ein genauso guter Beobachter, wie ich. Aber was willst du
dann mit mir?“ – „Ich möchte mich nicht von dir heiraten lassen, oder mich
mit dir verheiraten. Dafür suche ich mir einen anderen. Aber bevor ich mich
für einen entscheide, brauche ich noch ein bisschen Unterricht, Hoffnung und
Licht. Vielleicht erziehe ich mein Kind oder Kinder auch allein.“ – „Wäre das
das Ergebnis meines Liberalismus? Der Mensch würde am Ende vereinsamt leben
und sterben.“ – „Ich sehe die Sache oder Zukunft nicht ganz so schwarz. Was
ist natürlich? Bei den Menschenaffen gibt es ein Männchen dem alle Weibchen
folgen. In Nepal haben mehrere Männer gemeinsam eine Frau, weil sie sie nur
so ernähren können. Aber erst seit der Mensch die Möglichkeit hat, sich
zurückzuziehen, nachzudenken, um dann wieder mit anderen zusammenzukommen, um
diese Gedanken auszutauschen, geht die Entwicklung immer schneller voran. Er
sitzt wie ein Huhn auf seinen Ideen und brütet sie aus. Aber daran muss sich
der Mensch natürlich zuerst gewöhnen.“ – „Naja, er hat sich daran gewöhnt, im
Dorf, später in der Stadt oder im Staat zu leben. Natürlich oder normal ist,
was wir gerade haben. Ein heutiger Mensch würde in einer mittelalterlichen
Gesellschaft seelisch zugrunde gehen.“
„Aber sag mal! Du möchtest
deine Kinder allein erziehen, allein leben. Das klingt fast wie eine Emanze!“
– „Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, wäre ich jetzt vielleicht
enttäuscht. In einer liberalen Gesellschaft kann jeder so leben, wie es ihm
beliebt. Der eine ist homosexuell, der andere braucht eine unterwürfige Frau,
oder sie braucht einen richtigen Macho, der ihr jeden Abend so wirklich den
Hintern versohlt. Jeder soll bekommen, was er oder sie will. Besonders aus
den neuen, osteuropäischen Mitgliedstaaten kommen sehr viele sowohl Männer,
als auch Frauen. Die Frauen dieser Länder passen sich besser an die neue
Umgebung an, merken sehr schnell, dass der westeuropäische Mann meist keine
Emanze, aber auch keine Sklavin haben will. Der osteuropäische Mann dagegen
scheint, nichts gelernt zu haben. Einem Goethe kann ich es nicht mehr übel
nehmen, wenn er vor zweihundert Jahren seinem Faust in den Mund legte: „Liebe
Margarethe, wenn du nicht willst, so gebrauche ich Gewalt!“ Vor allem weil er
damit wahrscheinlich nur ausdrücken wollte, dass er sie über alles begehrte,
aber ihr niemals wehtun würde. Diese Männer aus Osteuropa wiederum versuchen
auch gar nicht, die hiesigen Frauen zu verstehen, und sind dann empört, wenn
sie zurückgewiesen werden. Danach erzählen sie allen möglichen Blödsinn über
westliche Frauen. Das geht vom ‘Sie seien prüde.‘ bis zu ‘Die wissen gar
nicht, was eine richtige Familie sei.‘“ – „Aber was für eine Lösung siehst
du?“ – „Du würdest natürlich am liebsten alles stehen und liegen lassen und
einfach aussteigen. Aber da kannst du sicher sein, dass es dich einholt. Das
extremste sind Zusammenstöße zwischen verschiedenen Volksgruppen. In sehr
vielen Städten und Ländern gibt es Ghettos. Die Reichen und Mittelständischen
begeben sich nicht dorthin, weil sie Angst haben. In ihren eigenen
Wohnbezirken haben sie an jeder Ecke Kameras und Sicherheitspersonal. Dort
fristen sie ihre Tage, wie in einem Luxusgefängnis, und merken nicht, dass
das auch für sie selbst nicht mehr gut ist.“
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Samstag, 15. August 2020
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