Freitag, 14. August 2020

118) I) Guten Morgen
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I) Guten Morgen

„Guten Morgen!“ – klang es aus dem Radio, das sich durch die Weckfunktion automatisch eingeschaltet hatte. Unser Held erwachte und warf ein Kissen in Richtung der Stimme, worauf es vom Tisch fiel und verstummte. Er hatte vergessen, die Weckfunktion abzustellen, es war nämlich ein Feiertag.
So ein Tag ist eigentlich frei, das sollte grundsätzlich bedeuten, dass nicht gearbeitet wird. Zu diesen Gelegenheiten blieb er länger im Bett, zu Mittag zu seinen Eltern, am Nachmittag zur Oma. Am Abend war er dann genauso müde, wie nach einem Arbeitstag. Zu viel gegessen, wodurch er auch noch schlecht schlief.
Zusätzlich musste er sich für heute wieder eine Ausrede für seine Oma ausdenken, warum seine Freundin nicht mitgekommen sei. Seine Eltern wussten, dass sie schon vor einem halben Jahr ausgezogen war, aber seiner Großmutter konnte er das nicht erzählen. Auch seine Mutter, die in dem Mädchen schon ihre Schwiegertochter gesehen hatte, verstand ihn nicht. „Das Mädchen will geheiratet werden und eine Familie gründen. Stell dir vor, dein Vater hätte mich nicht geheiratet! Dann wärest du jetzt nicht da.“ Die Reaktion seines Vaters war bei so einer Gelegenheit immer ein peinliches Lächeln. Wenn er als Kind manchmal mit seinem Vater zum Angeln fuhr, merkte er, dass der alte Herr mit einem Kind eigentlich nichts anfangen konnte. Seine Mutter hatte ihn in die Kirche geschleppt und geheiratet. Grundsätzlich bestimmte er nichts in seinem Leben. Großmutter und Mutter, also die Ehefrau und Schwiegermutter seines Vaters, waren keine Hausdrachen, aber sie wussten, was sie wollten. Und der Vater ließ sich führen. Es war für ihn schlicht einfacher. Es waren auch diese zwei Frauen gewesen, die ihn in ein Amt gesteckt hatten, in dem er den richtigen Chef gespielt und bis zu seiner Rente fast vierzig Jahre lang wöchentlich genau vierzig Stunden gearbeitet hatte, keine Minute länger oder weniger. Mittwochs und samstags sah er sich die Bundesligaspiele an, oder regte sich über die Ausländerpolitik der sozialistischen Regierung auf. „Diese Einwanderer machen noch unsere Kultur kaputt!“
Als unser Held den Militärdienst verweigerte und stattdessen Zivildienst machte, wurde das dem Vater und der Großmutter nicht mitgeteilt, weil dies eine Familientragödie verursacht hätte. Der Großvater hatte nämlich in der Waffen SS gedient.
Es gab noch viele andere Dinge, die er ihnen nicht erzählen konnte. Zurzeit traf er sich mit einem Mädchen türkischer Abstammung. Die hatte fast die gleichen Probleme mit ihrer Familie.
Als er jetzt so dalag, im Bett, und über seine Überlebenschancen für den heutigen Tag nachdachte, fühlte er sich miserabel, wie meistens an solchen Tagen, an denen er aus Rücksicht auf die Gefühle der Älteren, eine Komödie spielen musste. Gab es denn keine Möglichkeit auszubrechen? Er hätte am liebsten alles stehen und liegen lassen, um nicht weiter mit diesen Lügen leben zu müssen.
Und das war nun erst die Familie. Mit den Leuten in seiner Umgebung stand es nicht viel besser. Alles, was neu oder anders aussah, war für sie fremd und zu verurteilen. Er hatte schon in seiner Kindheit gerne lange Haare getragen, vor allem, weil er den null-acht-fünfzehn Schnitt des Dorffriseurs verabscheute. Der Dorfzahnarzt, der wahrscheinlich auch irgendeine wichtige Figur während der Hitlerzeit hätte sein wollen, fragte ihn dann mit dreizehn, ob er denn ein Junge oder ein Mädchen sei. Als er sich mit siebzehn auf einer Party von seinen Klassenkameraden einen Punkerschnitt machen ließ, wurde er ganz ausgeschlossen.
Homosexuelle waren auch für ihn etwas Seltsames, aber er begann, zu verstehen, was diese Leute ausstehen mussten, weil sie anders waren. Oder wollten sie anders sein? „Wenn du etwas werden willst, oder auch nur akzeptiert werden willst, musst du dich in die Reihe stellen und darfst nicht auffallen.“ – gab man ihm zu verstehen. Eigentlich war er wie alle anderen auch, vielleicht ein bisschen ehrlicher zu sich selbst, jemand, der nicht versuchte, sein eigenes Ich zu verneinen, sondern verschiedene Richtungen ausprobieren wollte, bis er das Richtige gefunden hatte, jemand der nicht einfach alles kritiklos übernehmen wollte, sondern Fragen stellte. Ja, er stellte alles in Frage, das war sein Fehler. Solche Leute werden entweder groß, oder kaputtgemacht. „Ein Körper kann nur funktionieren, wenn alle Teile ihre Aufgabe erfüllen, jeder Auswuchs ist ein Krebs und muss entfernt werden, bevor er den Organismus angreift.“ Hatten denn diese Leute nie über Darwin und seine Lehren gelesen. „Mutation und Selektion ergibt Evolution.“ Nicht jede Veränderung ist gut, aber eine Gesellschaft, die auf den Mond fliegt und das Weltall erobern will, benötigt und müsste es sich leisten können, neue Elemente aufzunehmen und zu verarbeiten. Ohne den homosexuellen Michelangelo und dem jüdischen Einstein würden wir noch heute auf den Bäumen sitzen. Und ohne Hitler, Horthy und Nero wüssten wir nicht, dass wir uns auch vor uns selbst schützen müssen. Es ist ein Witz der Geschichte, dass gerade die Anhänger der Tyrannen am lautesten schreien und Schutz fordern. Vor wem? Natürlich vor sich selbst!

Guten Morgen II


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