118) I) Guten Morgen
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I) Guten Morgen
„Guten Morgen!“ – klang es
aus dem Radio, das sich durch die Weckfunktion automatisch eingeschaltet
hatte. Unser Held erwachte und warf ein Kissen in Richtung der Stimme, worauf
es vom Tisch fiel und verstummte. Er hatte vergessen, die Weckfunktion
abzustellen, es war nämlich ein Feiertag.
So ein Tag ist eigentlich
frei, das sollte grundsätzlich bedeuten, dass nicht gearbeitet wird. Zu
diesen Gelegenheiten blieb er länger im Bett, zu Mittag zu seinen Eltern, am
Nachmittag zur Oma. Am Abend war er dann genauso müde, wie nach einem
Arbeitstag. Zu viel gegessen, wodurch er auch noch schlecht schlief.
Zusätzlich musste er sich
für heute wieder eine Ausrede für seine Oma ausdenken, warum seine Freundin
nicht mitgekommen sei. Seine Eltern wussten, dass sie schon vor einem halben
Jahr ausgezogen war, aber seiner Großmutter konnte er das nicht erzählen.
Auch seine Mutter, die in dem Mädchen schon ihre Schwiegertochter gesehen
hatte, verstand ihn nicht. „Das Mädchen will geheiratet werden und eine
Familie gründen. Stell dir vor, dein Vater hätte mich nicht geheiratet! Dann
wärest du jetzt nicht da.“ Die Reaktion seines Vaters war bei so einer
Gelegenheit immer ein peinliches Lächeln. Wenn er als Kind manchmal mit
seinem Vater zum Angeln fuhr, merkte er, dass der alte Herr mit einem Kind
eigentlich nichts anfangen konnte. Seine Mutter hatte ihn in die Kirche
geschleppt und geheiratet. Grundsätzlich bestimmte er nichts in seinem Leben.
Großmutter und Mutter, also die Ehefrau und Schwiegermutter seines Vaters,
waren keine Hausdrachen, aber sie wussten, was sie wollten. Und der Vater
ließ sich führen. Es war für ihn schlicht einfacher. Es waren auch diese zwei
Frauen gewesen, die ihn in ein Amt gesteckt hatten, in dem er den richtigen
Chef gespielt und bis zu seiner Rente fast vierzig Jahre lang wöchentlich
genau vierzig Stunden gearbeitet hatte, keine Minute länger oder weniger.
Mittwochs und samstags sah er sich die Bundesligaspiele an, oder regte sich
über die Ausländerpolitik der sozialistischen Regierung auf. „Diese Einwanderer
machen noch unsere Kultur kaputt!“
Als unser Held den
Militärdienst verweigerte und stattdessen Zivildienst machte, wurde das dem
Vater und der Großmutter nicht mitgeteilt, weil dies eine Familientragödie
verursacht hätte. Der Großvater hatte nämlich in der Waffen SS gedient.
Es gab noch viele andere
Dinge, die er ihnen nicht erzählen konnte. Zurzeit traf er sich mit einem
Mädchen türkischer Abstammung. Die hatte fast die gleichen Probleme mit ihrer
Familie.
Als er jetzt so dalag, im
Bett, und über seine Überlebenschancen für den heutigen Tag nachdachte,
fühlte er sich miserabel, wie meistens an solchen Tagen, an denen er aus
Rücksicht auf die Gefühle der Älteren, eine Komödie spielen musste. Gab es
denn keine Möglichkeit auszubrechen? Er hätte am liebsten alles stehen und
liegen lassen, um nicht weiter mit diesen Lügen leben zu müssen.
Und das war nun erst die
Familie. Mit den Leuten in seiner Umgebung stand es nicht viel besser. Alles,
was neu oder anders aussah, war für sie fremd und zu verurteilen. Er hatte
schon in seiner Kindheit gerne lange Haare getragen, vor allem, weil er den
null-acht-fünfzehn Schnitt des Dorffriseurs verabscheute. Der Dorfzahnarzt,
der wahrscheinlich auch irgendeine wichtige Figur während der Hitlerzeit
hätte sein wollen, fragte ihn dann mit dreizehn, ob er denn ein Junge oder
ein Mädchen sei. Als er sich mit siebzehn auf einer Party von seinen
Klassenkameraden einen Punkerschnitt machen ließ, wurde er ganz
ausgeschlossen.
Homosexuelle waren auch für
ihn etwas Seltsames, aber er begann, zu verstehen, was diese Leute ausstehen
mussten, weil sie anders waren. Oder wollten sie anders sein? „Wenn du etwas
werden willst, oder auch nur akzeptiert werden willst, musst du dich in die
Reihe stellen und darfst nicht auffallen.“ – gab man ihm zu verstehen.
Eigentlich war er wie alle anderen auch, vielleicht ein bisschen ehrlicher zu
sich selbst, jemand, der nicht versuchte, sein eigenes Ich zu verneinen,
sondern verschiedene Richtungen ausprobieren wollte, bis er das Richtige
gefunden hatte, jemand der nicht einfach alles kritiklos übernehmen wollte,
sondern Fragen stellte. Ja, er stellte alles in Frage, das war sein Fehler.
Solche Leute werden entweder groß, oder kaputtgemacht. „Ein Körper kann nur
funktionieren, wenn alle Teile ihre Aufgabe erfüllen, jeder Auswuchs ist ein
Krebs und muss entfernt werden, bevor er den Organismus angreift.“ Hatten
denn diese Leute nie über Darwin und seine Lehren gelesen. „Mutation und
Selektion ergibt Evolution.“ Nicht jede Veränderung ist gut, aber eine Gesellschaft,
die auf den Mond fliegt und das Weltall erobern will, benötigt und müsste es sich
leisten können, neue Elemente aufzunehmen und zu verarbeiten. Ohne den
homosexuellen Michelangelo und dem jüdischen Einstein würden wir noch heute
auf den Bäumen sitzen. Und ohne Hitler, Horthy und Nero wüssten wir nicht,
dass wir uns auch vor uns selbst schützen müssen. Es ist ein Witz der
Geschichte, dass gerade die Anhänger der Tyrannen am lautesten schreien und
Schutz fordern. Vor wem? Natürlich vor sich selbst!
Guten Morgen II |
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Freitag, 14. August 2020
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