Dienstag, 18. August 2020

125) die Stimme der Zeit II
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Die Stimme der Zeit II

Bevor Tränen aus seinen/ihren Augen hervortreten konnten, waren die beiden schon wieder in der Gegenwart. „Stell dir vor, dass weibliche Nachkommen zu dieser Zeit auch zur Erbschaft nicht berechtigt waren! Und wenn der Mann gestorben war, suchten ein männlicher Verwandter oder die Umgebung, also die Gesellschaft für die Witwe einen neuen Ehemann.“ – „Vielleicht waren die Frauen mit ihrer Situation zufrieden? Dann mussten sie wenigstens nicht denken.“ – „Natürlich, wie heute die Leute, die sich einen Führer wünschen.“ – „Aber warum kann man darüber nichts hören oder lesen?“ – „Die Frauen hatten kein Recht, etwas zu veröffentlichen. Wahrscheinlich kamen die meisten auch nicht auf den Gedanken, ihrem Kummer Ausdruck zu verleihen. Sie standen gewissermaßen noch nicht auf dieser Stufe der Selbsterkenntnis.“ – „Natürliche Gesetze würde ich dies nennen! Ich denke, dass sich der Mensch bestimmten Gegebenheiten nicht widersetzen sollte. Schau dir an, was sie heute auf dem medizinischen Gebiet machen! Sogar schon der kleinste Teil, die Gene, werden manipuliert!“ Und schon waren sie wieder auf Reisen.
Da lag er im Bett mit unheimlichen Schmerzen in der unteren Bauchgegend. Der Arzt packte gerade seine seltsamen Instrumente zusammen. „Muss ich sterben?“ – „Ich kann keine äußeren Verletzungen feststellen. Du musst dich in Gottes Hände geben!“ Von den Schmerzen gequält wurde er ohnmächtig.
Die Stimme der Zeit sah ihn an und sagte: „Man nennt das Blinddarmentzündung, was im modernen Krankenhaus einem kleineren Eingriff gleichkommt.“
Jetzt lag er in einem moderneren Bett. Zwei Ärzte unterhielten sich neben dem Bett des Schlafenden. „Wir haben leider kein entsprechendes Herz gefunden und die Genforschung ist auch noch nicht so weit entwickelt, dass wir aus seinen Stammzellen ein Herz heranziehen könnten.“ – „Er hat einfach Pech, ist zu früh krank geworden.“ – „Ich habe in einem medizinischen Bericht gelesen, dass eine amerikanische Forschergruppe auf diesem Gebiet schon große Fortschritte erzielt hat.“
Wieder in der Gegenwart. „Wie konnten die Leute früher so lange leben?“ – „Die durchschnittliche Lebenserwartung lag wegen der hohen Kindersterblichkeit und dem damaligen Entwicklungsstand der Medizin bei rund fünfundvierzig Jahren.“ – „Wo wird wohl die Grenze in der Zukunft liegen?“ – „Heute liegt sie in Industrieländern bei siebzig Jahren und die Wissenschaft rechnet mit möglichen hundertzwanzig Jahren. In Entwicklungsländern aber bestehen auch heute weiterhin Zustände wie vor dreihundert Jahren.“ – „Die waschen sich wahrscheinlich nicht richtig.“ Die Stimme der Zeit sah unseren unverbesserlichen Rechtsgerichteten ein bisschen traurig an und begab sich mit ihm erneut auf eine Reise.
„Wohin hast du mich denn jetzt schon wieder gebracht?“ – „Das ist eine europäische Fabrik in Afrika. Hier werden Arbeiten verrichtet, die du in deiner Heimat nicht mehr übernehmen würdest.“ Unser Held bekam einen Tritt in den Hintern. „Weiterarbeiten!“ – wurde er angebrüllt. Nach sechzehn Stunden konnte er endlich die Fabrik verlassen, empfing am Eingangstor seinen Tageslohn, ging damit auf einem dreckigen Markt zu einem Stand, um den es von Leuten und Mücken wimmelte und wollte Brot kaufen. Nach vielem Drängeln und Schupsen bekam er ein halbes Kilo und verschlang es fast in einem. Nun hatte er Durst. „Wo gibt es hier einen Brunnen?“ – „Zehn Kilometer im nächsten Dorf!“ – wurde ihm geantwortet. Halb verdurstet dort angekommen fand er vor sich eine Schlange von ungefähr hundertfünfzig Leuten. „Bring mich sofort wieder in meine Heimat zurück!“ – befahl er der Stimme der Zeit, aber niemand antwortete ihm.
Nach einer Woche begab er sich dann auf die Wanderung nach Europa. Durch die Wüste wäre er fast verdurstet, im Mittelmeer wäre er fast ertrunken, als das seeuntüchtige Boot vor der italienischen Küste sank. Da er keine legalen Papiere hatte, musste er schwarzarbeiten. Er arbeitete natürlich härter, länger und besser als die meisten Europäer und konnte sich, wie die meisten armen Leute, nur die in Entwicklungsländern hergestellten Waren leisten. Währenddessen wurde er auch ein paar Mal von Rassisten verprügelt, die ihm vorwarfen, dass er ihre Arbeitsplätze wegnehmen würde, obwohl er ihnen versicherte, dass es in jener Fabrik nur Afrikaner gab. Nach einem halben Jahr meldete sich die Stimme der Zeit. „Wie denkst du heute?“ – „Als Neger bin ich hier ein Untermensch. Verwandle mich bitte wieder in meinen ursprünglichen Zustand zurück. Ich will mich bessern.“ Gesagt, getan, er war wieder der alte. „Bring mich lieber in die Zukunft!“ – „Das kann ich nicht.“ – „Warum nicht?“ – „Weil auch ich noch nicht weiß, wie sie aussehen wird. Du und die Leute um dich herum müssen sie erst schaffen.“ – „Ich glaube, dass ich etwas tun kann, damit die Zukunft besser wird, als es jemals in der Vergangenheit war.“


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