125) die Stimme der Zeit II
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Die Stimme der Zeit II
Bevor Tränen aus
seinen/ihren Augen hervortreten konnten, waren die beiden schon wieder in der
Gegenwart. „Stell dir vor, dass weibliche Nachkommen zu dieser Zeit auch zur
Erbschaft nicht berechtigt waren! Und wenn der Mann gestorben war, suchten
ein männlicher Verwandter oder die Umgebung, also die Gesellschaft für die
Witwe einen neuen Ehemann.“ – „Vielleicht waren die Frauen mit ihrer
Situation zufrieden? Dann mussten sie wenigstens nicht denken.“ – „Natürlich,
wie heute die Leute, die sich einen Führer wünschen.“ – „Aber warum kann man
darüber nichts hören oder lesen?“ – „Die Frauen hatten kein Recht, etwas zu
veröffentlichen. Wahrscheinlich kamen die meisten auch nicht auf den
Gedanken, ihrem Kummer Ausdruck zu verleihen. Sie standen gewissermaßen noch
nicht auf dieser Stufe der Selbsterkenntnis.“ – „Natürliche Gesetze würde ich
dies nennen! Ich denke, dass sich der Mensch bestimmten Gegebenheiten nicht
widersetzen sollte. Schau dir an, was sie heute auf dem medizinischen Gebiet
machen! Sogar schon der kleinste Teil, die Gene, werden manipuliert!“ Und
schon waren sie wieder auf Reisen.
Da lag er im Bett mit
unheimlichen Schmerzen in der unteren Bauchgegend. Der Arzt packte gerade
seine seltsamen Instrumente zusammen. „Muss ich sterben?“ – „Ich kann keine
äußeren Verletzungen feststellen. Du musst dich in Gottes Hände geben!“ Von
den Schmerzen gequält wurde er ohnmächtig.
Die Stimme der Zeit sah ihn
an und sagte: „Man nennt das Blinddarmentzündung, was im modernen Krankenhaus
einem kleineren Eingriff gleichkommt.“
Jetzt lag er in einem
moderneren Bett. Zwei Ärzte unterhielten sich neben dem Bett des Schlafenden.
„Wir haben leider kein entsprechendes Herz gefunden und die Genforschung ist
auch noch nicht so weit entwickelt, dass wir aus seinen Stammzellen ein Herz
heranziehen könnten.“ – „Er hat einfach Pech, ist zu früh krank geworden.“ –
„Ich habe in einem medizinischen Bericht gelesen, dass eine amerikanische
Forschergruppe auf diesem Gebiet schon große Fortschritte erzielt hat.“
Wieder in der Gegenwart.
„Wie konnten die Leute früher so lange leben?“ – „Die durchschnittliche
Lebenserwartung lag wegen der hohen Kindersterblichkeit und dem damaligen
Entwicklungsstand der Medizin bei rund fünfundvierzig Jahren.“ – „Wo wird
wohl die Grenze in der Zukunft liegen?“ – „Heute liegt sie in
Industrieländern bei siebzig Jahren und die Wissenschaft rechnet mit
möglichen hundertzwanzig Jahren. In Entwicklungsländern aber bestehen auch
heute weiterhin Zustände wie vor dreihundert Jahren.“ – „Die waschen sich
wahrscheinlich nicht richtig.“ Die Stimme der Zeit sah unseren
unverbesserlichen Rechtsgerichteten ein bisschen traurig an und begab sich
mit ihm erneut auf eine Reise.
„Wohin hast du mich denn
jetzt schon wieder gebracht?“ – „Das ist eine europäische Fabrik in Afrika.
Hier werden Arbeiten verrichtet, die du in deiner Heimat nicht mehr
übernehmen würdest.“ Unser Held bekam einen Tritt in den Hintern.
„Weiterarbeiten!“ – wurde er angebrüllt. Nach sechzehn Stunden konnte er
endlich die Fabrik verlassen, empfing am Eingangstor seinen Tageslohn, ging
damit auf einem dreckigen Markt zu einem Stand, um den es von Leuten und
Mücken wimmelte und wollte Brot kaufen. Nach vielem Drängeln und Schupsen
bekam er ein halbes Kilo und verschlang es fast in einem. Nun hatte er Durst.
„Wo gibt es hier einen Brunnen?“ – „Zehn Kilometer im nächsten Dorf!“ – wurde
ihm geantwortet. Halb verdurstet dort angekommen fand er vor sich eine
Schlange von ungefähr hundertfünfzig Leuten. „Bring mich sofort wieder in
meine Heimat zurück!“ – befahl er der Stimme der Zeit, aber niemand
antwortete ihm.
Nach einer Woche begab er
sich dann auf die Wanderung nach Europa. Durch die Wüste wäre er fast
verdurstet, im Mittelmeer wäre er fast ertrunken, als das seeuntüchtige Boot
vor der italienischen Küste sank. Da er keine legalen Papiere hatte, musste
er schwarzarbeiten. Er arbeitete natürlich härter, länger und besser als die
meisten Europäer und konnte sich, wie die meisten armen Leute, nur die in
Entwicklungsländern hergestellten Waren leisten. Währenddessen wurde er auch
ein paar Mal von Rassisten verprügelt, die ihm vorwarfen, dass er ihre
Arbeitsplätze wegnehmen würde, obwohl er ihnen versicherte, dass es in jener
Fabrik nur Afrikaner gab. Nach einem halben Jahr meldete sich die Stimme der
Zeit. „Wie denkst du heute?“ – „Als Neger bin ich hier ein Untermensch.
Verwandle mich bitte wieder in meinen ursprünglichen Zustand zurück. Ich will
mich bessern.“ Gesagt, getan, er war wieder der alte. „Bring mich lieber in
die Zukunft!“ – „Das kann ich nicht.“ – „Warum nicht?“ – „Weil auch ich noch
nicht weiß, wie sie aussehen wird. Du und die Leute um dich herum müssen sie
erst schaffen.“ – „Ich glaube, dass ich etwas tun kann, damit die Zukunft
besser wird, als es jemals in der Vergangenheit war.“
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Dienstag, 18. August 2020
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