Mittwoch, 12. August 2020

106) sechsundfünfzig
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Sechsundfünfzig

Geboren neunzehnhunderteinundzwanzig, jetzt zweitausendeins sah er sich verlassen, von seinem Weltbild, seiner Umgebung, sogar von seinen Enkeln. Etwas, wogegen er sein ganzes Leben gekämpft hatte, war wieder im Kommen, der Faschismus. Heute wollten sie in ihm ein Schuldgefühl für etwas erwecken, was er sechsundfünfzig getan hatte und jetzt erneut begehen würde, nämlich gegen den Faschismus und Rassismus aufzutreten.
Das Horthy-Regime war für ihn ein Albtraum gewesen, seinen besten Schulfreunden war die Aufnahme an der Universität verweigert worden. Später am Arbeitsplatz hatte man Juden angezeigt, die dann plötzlich verschwanden. Und dann kam schließlich der Eintritt in einen sinnlosen Krieg an der Seite eines Massenmörders. Er selbst wurde an die russische Front geschickt, wo er sah, wie die Leute der Arbeitskommandos, meistens Juden oder Regime-Gegner, wie die Fliegen dahinstarben. Die ungarischen, regulären Truppen benahmen sich gegenüber den Ukrainern nicht viel besser, als die Deutschen. Die Slaven waren für sie nur Untermenschen, und deren Frauen und Töchter zu vergewaltigen, war keine Sünde. Der Horthy-Faschismus hatte die Ungarn zu Tieren gemacht.
Er war einer der wenigen, die das überlebt hatten. Um zu verhindern, dass man ihn noch einmal einberuft, ging er in den Untergrund. Aber dieser war klein. Die Ungarn unterstützten ihren Horthy und später Szállasi. Als die Russen im Land eintrafen, musste er feststellen, dass sie nicht nur gekommen waren, um die Welt vom Faschismus zu befreien, sondern auch um sich zu rächen. Er versuchte für sie eine Entschuldigung zu finden: „Schließlich hatten die Ungarn angegriffen und sich wie Tiere benommen.“ Natürlich merkte er selbst, dass dies nicht vertretbar war, aber er war überzeugt, dass die Russen weniger schlimm waren, als die Horthy-Faschisten. Den Beweis dafür lieferte ein genaueres Studium der Geschichte.
Die ersten Nachkriegsjahre bekämpfte er alles, was Rechtsgerichtet war, auch wenn er sich immer wieder die Frage stellte, ob es richtig sei. Und dann kam Sechsundfünfzig und Nagy Imre. Ein Drahtseiltanz zwischen Russen und Faschisten. Nagy hatte keine Chance, zu gewinnen. Viele, nicht alle, ließen da auf der Straße die alten Stimmen aus der Vorkriegszeit hören, nachdem es in verschiedenen Dörfern und Städten Ungarns zwischen sechsundvierzig und neunundvierzig erneut Judenpogrome gegeben hatte. Die Schrecken dieses Albtraumes erschienen wieder vor seinen Augen und er schoss. Einfach in die Menge hinein! Die Faschisten sollten nicht noch einmal gewinnen. Als dann russische Panzer auftauchten, zog er sich zurück. Daran wollte er nicht mehr teilnehmen. Später schlug man ihn für verschiedene Auszeichnungen vor, die er ablehnte. Er sprach auch nie mit jemandem darüber, weil er nicht darauf stolz war, aber wusste, dass er das einzig Richtige getan hatte.
Das Leben ging weiter, er arbeitete, versuchte, wie jeder andere, ein guter Familienvater zu sein. Sein Sohn wurde ganz anders, wie er, lehnte sich ständig gegen das Kádár-Regime auf. Manchmal kam es zwischen ihnen zum Streit, später zum Bruch. Sein Sohn zog aus und besuchte die Mutter nur dann, wenn der Vater nicht zu Hause war. Zwei verschiedene Generationen mit verschiedenen Lebenserfahrungen. Seinen Enkel sah er nur ganz selten, wenn sein Sohn ihn über das Wochenende oder die Ferien bei der Großmutter ließ. Und deshalb gelang es Großvater und Enkel nicht, eine vertrauliche Beziehung aufzubauen.
Beim Systemwechsel schrien viele danach, die Verbrecher, wie sie sie nannten, vor Gericht zu stellen. Vor allem solche, die keine Ahnung hatten und dies nur für politische Ziele nutzen wollten. Aber der Ungar hatte aus seiner Geschichte schon wieder nichts gelernt und ließ sich an der Nase herumführen. Aber als einmal sein erwachsen gewordener Enkel zu Besuch kam und ihn direkt anklagte, wurde es ihm zu viel. Der Enkel hatte dabei vergessen, dass auch der Vater ein guter Kádárist war, obwohl er hinter dem Rücken der Leute anders gesprochen hatte. Der Großvater stand auf, ging in seine Garage und werkte etwas. Sein Enkel fasste dies als Eingeständnis auf. Ein paar Jahre später starb er und redete, wie alle Leute vor ihrem Tod, im Unterbewusstsein sehr viel durcheinander. Der Enkel sollte ein paar Jahre darauf erzählen, dass sein Großvater unter großen Gewissensbissen gelitten habe.


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