106) sechsundfünfzig
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Sechsundfünfzig
Geboren neunzehnhunderteinundzwanzig, jetzt
zweitausendeins sah er sich verlassen, von seinem Weltbild, seiner Umgebung,
sogar von seinen Enkeln. Etwas, wogegen er sein ganzes Leben gekämpft hatte,
war wieder im Kommen, der Faschismus. Heute wollten sie in ihm ein
Schuldgefühl für etwas erwecken, was er sechsundfünfzig getan hatte und jetzt
erneut begehen würde, nämlich gegen den Faschismus und Rassismus aufzutreten.
Das Horthy-Regime war für ihn ein Albtraum
gewesen, seinen besten Schulfreunden war die Aufnahme an der Universität
verweigert worden. Später am Arbeitsplatz hatte man Juden angezeigt, die dann
plötzlich verschwanden. Und dann kam schließlich der Eintritt in einen
sinnlosen Krieg an der Seite eines Massenmörders. Er selbst wurde an die
russische Front geschickt, wo er sah, wie die Leute der Arbeitskommandos,
meistens Juden oder Regime-Gegner, wie die Fliegen dahinstarben. Die
ungarischen, regulären Truppen benahmen sich gegenüber den Ukrainern nicht
viel besser, als die Deutschen. Die Slaven waren für sie nur Untermenschen,
und deren Frauen und Töchter zu vergewaltigen, war keine Sünde. Der
Horthy-Faschismus hatte die Ungarn zu Tieren gemacht.
Er war einer der wenigen, die das überlebt hatten. Um
zu verhindern, dass man ihn noch einmal einberuft, ging er in den Untergrund.
Aber dieser war klein. Die Ungarn unterstützten ihren Horthy und später
Szállasi. Als die Russen im Land eintrafen, musste er feststellen, dass sie
nicht nur gekommen waren, um die Welt vom Faschismus zu befreien, sondern
auch um sich zu rächen. Er versuchte für sie eine Entschuldigung zu finden:
„Schließlich hatten die Ungarn angegriffen und sich wie Tiere benommen.“
Natürlich merkte er selbst, dass dies nicht vertretbar war, aber er war
überzeugt, dass die Russen weniger schlimm waren, als die Horthy-Faschisten.
Den Beweis dafür lieferte ein genaueres Studium der Geschichte.
Die ersten Nachkriegsjahre bekämpfte er alles,
was Rechtsgerichtet war, auch wenn er sich immer wieder die Frage stellte, ob
es richtig sei. Und dann kam Sechsundfünfzig und Nagy Imre. Ein Drahtseiltanz
zwischen Russen und Faschisten. Nagy hatte keine Chance, zu gewinnen. Viele,
nicht alle, ließen da auf der Straße die alten Stimmen aus der Vorkriegszeit
hören, nachdem es in verschiedenen Dörfern und Städten Ungarns zwischen
sechsundvierzig und neunundvierzig erneut Judenpogrome gegeben hatte. Die
Schrecken dieses Albtraumes erschienen wieder vor seinen Augen und er schoss.
Einfach in die Menge hinein! Die Faschisten sollten nicht noch einmal
gewinnen. Als dann russische Panzer auftauchten, zog er sich zurück. Daran
wollte er nicht mehr teilnehmen. Später schlug man ihn für verschiedene
Auszeichnungen vor, die er ablehnte. Er sprach auch nie mit jemandem darüber,
weil er nicht darauf stolz war, aber wusste, dass er das einzig Richtige
getan hatte.
Das Leben ging weiter, er arbeitete, versuchte,
wie jeder andere, ein guter Familienvater zu sein. Sein Sohn wurde ganz
anders, wie er, lehnte sich ständig gegen das Kádár-Regime auf. Manchmal kam
es zwischen ihnen zum Streit, später zum Bruch. Sein Sohn zog aus und
besuchte die Mutter nur dann, wenn der Vater nicht zu Hause war. Zwei
verschiedene Generationen mit verschiedenen Lebenserfahrungen. Seinen Enkel
sah er nur ganz selten, wenn sein Sohn ihn über das Wochenende oder die Ferien
bei der Großmutter ließ. Und deshalb gelang es Großvater und Enkel nicht,
eine vertrauliche Beziehung aufzubauen.
Beim Systemwechsel schrien viele danach, die
Verbrecher, wie sie sie nannten, vor Gericht zu stellen. Vor allem solche,
die keine Ahnung hatten und dies nur für politische Ziele nutzen wollten.
Aber der Ungar hatte aus seiner Geschichte schon wieder nichts gelernt und
ließ sich an der Nase herumführen. Aber als einmal sein erwachsen gewordener
Enkel zu Besuch kam und ihn direkt anklagte, wurde es ihm zu viel. Der Enkel
hatte dabei vergessen, dass auch der Vater ein guter Kádárist war, obwohl er
hinter dem Rücken der Leute anders gesprochen hatte. Der Großvater stand auf,
ging in seine Garage und werkte etwas. Sein Enkel fasste dies als Eingeständnis
auf. Ein paar Jahre später starb er und redete, wie alle Leute vor ihrem Tod,
im Unterbewusstsein sehr viel durcheinander. Der Enkel sollte ein paar Jahre
darauf erzählen, dass sein Großvater unter großen Gewissensbissen gelitten
habe.
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Mittwoch, 12. August 2020
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