Dienstag, 4. August 2020

76) schon seit Tagen
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Schon seit Tagen

Schon seit Tagen saß er in seinem Dachzimmer, umgeben von Büchern, Gemälden und Musikinstrumenten. Manchmal setzte er sich ans Klavier und spielte ein bisschen, aber auch das wollte ihn nicht befriedigen. Dreimal täglich brachte ihm die Haushälterin sein Essen, wechselte das Wasser zum Händewaschen. Der Holzofen blieb unberührt und die Fenster geöffnet, weil es Sommer war. Deshalb konnte er das lustige Treiben der Nachbarskinder im Hof hören. Warum ging er nicht hinaus zu ihnen? Sie mochten ihn, den komischen Vogel aus dem Dachgeschoss. Immer erzählte er ihnen etwas Witziges. Meist umringten sie ihn und ließen ihn nicht gehen, bis er sie nicht mit irgendeiner Geschichte erfreut hatte. Das war der Zoll, den die Kinderschar ihm abverlangte. Aber nur ihm, die anderen Leute im Haus wurden mit Gleichgültigkeit gestraft. Sie waren einfach grau und langweilig. Die Kinderwelt braucht Farben, um ihre Gedankenwelt auszufüllen. Und das war es, wovor er zitterte, wovor ihm schauderte, die Kinder mit ihren fordernden Augen nicht befriedigen zu können. Am vorigen Tag war sogar eines, das kleinste und niedlichste an seine Tür gekommen und hatte geklopft. Sie wussten von der Haushälterin, die ihn für einen Taugenichts hielt, dass er nicht krank war. „Was soll mit ihm schon sein!“ hatte sie den kleinen geantwortet, „der sitzt an seinem Tisch und macht nichts.“ Er hatte dem bittenden Klopfen nicht geöffnet und die kleinen, leichten Schritte waren traurig wieder die Stiegen hinuntergegangen. Aber irgendwann würde er sich zeigen müssen und eingestehen, dass er genauso wie alle anderen farblos und durchschnittlich war. Sollte er ihnen sagen, dass auch er nur so in den Tag hineinlebt und seinen Instinkten folgte? Nein, das konnte er nicht. Er schämte sich dafür, ihnen nur Schokolade und Existenz anbieten zu können. Aber wenn wir wollen, dass der Mensch sich weiterentwickelt, dürfen wir unsere Kinder nicht nur mit Süßigkeiten vollstopfen und ihnen alle möglichen Spielzeuge aus dem Schaufenster kaufen. Sie brauchen geistige Nahrung. Er könnte ihnen doch irgendeine Fabel (Geschichte, in der die Tiere sprechen können.) von Aesopos erzählen, sie würden sich auch darüber freuen. Wie Phaedrus und später Jean de la Fontaine. Aber er wusste, dass das eine oder andere früher oder später einmal das Original lesen würde, und dann natürlich sehr enttäuscht wäre, dabei ein Vorbild verlieren würde.
Wir brauchen Illusionen, aber müssen dabei aufpassen, diese nicht auf brutalste Weise zu zerstören. Er wollte ihnen, aber vor allem sich selbst, treu bleiben. Und so saß er eingeschlossen in seinem Dachzimmer.


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