100) auf und ab
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Auf und ab!
Der kleine Familienbetrieb, den er von seinem
Vater übernommen hatte, lief nicht gerade gut und deshalb war er sehr froh,
eine Einladung vom Bürgermeister erhalten zu haben, ein Abendessen auf einem
kleinen Luxusschiff. Es war ihm klar, dass dies nicht wegen seiner „schönen
blauen Augen“ geschah, hier sollten neue geschäftliche Verbindungen geknüpft
werden. Wenn man mit den richtigen Leuten bekannt ist, wird man
wettbewerbsfähiger. Und auf diesen Abend bereitete er sich jetzt vor.
Der Bürgermeister war nicht unbedingt ein
angenehmer Mensch, weil er auf dem Weg nach oben viele Füße hatte küssen
müssen, und dies nun auch von allen erwartete, die von „seiner“ Torte etwas
abhaben wollten. Unsere Hauptperson hatte das Oberhaupt der Stadt schon
einmal in einer Situation gesehen, als ein hohes Tier aus der
Landesverwaltung bei ihm eintraf. „Natürlich, Herr XY, wird sofort erledigt,
Herr XY, ohne mich selbst loben zu wollen, habe auch ich schon daran gedacht,
Herr XY, ……………..“ Dann drehte er sich herum und brüllte einen seiner
Untergebenen an. Wenn er etwas von einem Vorgesetzten wollte, konnte er
überhöflich sein, aber wenn er etwas von einem Untergebenen verlangte, benahm
er sich wie Nero persönlich.
Es war schon zwei Uhr und er wollte eigentlich
noch zum Friseur gehen, außerdem musste er seinen Anzug aus der Reinigung
abholen. Vielleicht würde er heute Abend auch ein paar Worte mit der Tochter
des Bürgermeisters sprechen können, sie waren doch zusammen in die Schule
gegangen.
Der Abend kam, er fand sich am Anlegesteg ein,
aber niemand oder kein Schiff war weit und breit zu sehen. „Ich werde wohl
einfach zu früh angekommen sein.“ – dachte er bei sich. Er sah auf die Uhr.
„Richtig, eine halbe Stunde zu früh.“ Er wartete. Nach zwei Stunden ließ sich
noch immer niemand blicken. Als er das so stand und eine Zigarette nach der
anderen rauchte, fuhr eine schwarze Limousine langsam an ihm vorbei. Das
Fenster war einen Spalt heruntergedreht, durch den er das Gelächter einer
kleinen Gesellschaft hören konnte. Man hatte sich über ihn lustig gemacht,
das war die Wasserprobe. Sein Telefon klingelte, er holte es aus der
Hosentasche, keine Nummer, er nahm das Gespräch an, eine Frauenstimme, es war
die Tochter des Bürgermeisters, sie fragte: „Kommst du morgen zu uns zum
Abendessen?“ Er zögerte einen Augenblick, dann antwortete er schnell:
„Natürlich! Um wieviel Uhr?“
Auf dem Weg nach Hause schossen ihm ein paar
Gedanken durch den Kopf: War er wirklich so tief gesunken? Was wollte und
konnte er erreichen? Es war ihm klar, dass man über ihn lachte. Der
Bürgermeister wusste jetzt, dass er bereit sein würde, sehr viele Füße zu
küssen.
Am nächsten Abend ging er zur Villa des
Bürgermeisters, sie lag ein bisschen außerhalb der Stadt, mit einer hohen,
undurchsichtigen Umzäunung aus drei Meter Mauer und darüber hinausragend eine
dichte Baumreihe. Kein Licht, er klingelte, noch einmal, wartete ein
bisschen. Gerade wollte er die Blumen, die er für seine ehemalige
Schulkameradin gekauft hatte, wegwerfen, als sich das kleine Tor öffnete. Da
stand sie, mit einem entwaffnenden Lächeln. Er überreichte ihr die Blumen,
gemäß seiner Erinnerung waren dies ihre Lieblingsorchideen, weil sie Rosen
nicht mochte, zu unterwürfig, wie sie es nannte.
Der gepflasterte Weg führte zu einer
prachtvollen, halbrunden Treppe, das Löwenspalier fand er ein bisschen
kitschig aber teuer. Dann ging es weiter durch eine geräumige Vorhalle, durch
eine Flügeltür in den Speisesaal. Er konnte nur zwei Gedecke erkennen. Sie
bemerkte seine Verwunderung, aber stellte die Blumen in eine Vase und wies
ihm einen Platz zu. Sein Erstaunen wurde noch größer, als sie anfing, nicht
über alte Schulzeiten oder romantische Dinge, sondern über ein großes Projekt
zu sprechen. Sie redete, als hätte sie alle Fäden in der Hand. Wie sehr sie
sich verändert hatte! Als er sie jetzt noch genauer betrachtete, konnte er
hinter der Schminke harte Züge erkennen. Er war nicht auf diese Verhandlung
vorbereitet, was sich später noch rächen sollte, weil es in dem Vertrag
einige Klauseln gab, die ihn und seinen Familienbetrieb eng an die Geschäfte
des Bürgermeisters binden sollten. Wie er sich nach Jahren erinnern sollte,
bekam er von ihr bei den brenzligen Stellen immer ein unschuldiges Lächeln,
dann streichelte sie seinen Arm. Sie spielte mit ihm, wie die weibliche
Spinne, die, nachdem sie begattet worden ist, das männliche Tier auffrisst.
Nach der Unterzeichnung gab sie ihm einen Kuss und lag in seinen Armen.
Als er am nächsten Morgen im fremden Bett
aufwachte, fand er neben sich einen kleinen Tisch mit Frühstück und einen
parfümierten Brief. „Guten Morgen, Liebling! Du weißt, was wir besprochen
haben!“ Noch einen Moment blieb er liegen, schloss wieder die Augen. Zu
seiner Schulzeit hatte er immer davon geträumt, sie zu erobern. Gestern Nacht
hatte sie sich ihm hingegeben. Sie war gut im Bett, aber irgendetwas fehlte.
Berechnung war an die Stelle des Gefühls getreten. Er spürte eine seltsame
Spannung in der Magengegend, wie nach einer Prüfung, von der er überhaupt
nicht ahnte, wie sie ausfallen würde.
In den nächsten Monaten erledigte er seine
Geschäfte, oder besser: erledigte seine Aufgaben. Sein Bankkonto wuchs, doch
er war nicht mehr der Alte. Manchmal verbrachten sie eine Nacht zusammen.
Dies war meist die Belohnung für ein Geschäft. Es sollte eigentlich eine Art
Krönung der Ereignisse sein, aber er hatte inzwischen gelernt, seine Rolle zu
spielen. Ab und zu überfiel ihn der Gedanke, dass sie vielleicht ahnte, er
war nicht mehr der Gleiche.
Der Bürgermeister hielt ihn und ähnliche Leute
zwar auf einer gewissen Stufe, passte aber doch auf, dass sie seiner Position
nicht über den Kopf wuchsen. Unsere Hauptperson war sich auch nicht ganz
sicher, ob er der einzige war, der die süßen Früchte der Tochter genoss. Weil
er einer der treuesten Diener war, oder vielleicht am besten seine Rolle
spielte, wurde sein Geschäft größer und die Stadt für ihn kleiner.
Jahre vergingen und das unbekümmerte Desinteresse
der Einwohner bot anderen Parteien oder Gruppen keine Möglichkeit, eine
wirksame Opposition aufzubauen, deshalb blieben dunkle Geschäfte
unaufgedeckt. Bei Bauprojekten zum Beispiel wurde Material gespart, wo es
nicht unbedingt sichtbar war und an anderen Stellen noch einmal verrechnet.
Unfälle waren keine Seltenheit, wurden dennoch meist auf menschliches
Versagen zurückgeführt.
Es war ein lustiges Spiel, zu sehen, wie sein
Konto doppelt so schnell wachsen konnte. Doch, wohin mit dem Geld? Er war
vorsichtig und wollte nicht, dass es zu sehr auffällt, obwohl die Tochter des
Bürgermeisters ihn immer wieder ermutigte, sich endlich seines Standes gemäß
zu benehmen. Langsam taute er auf, und nachdem er genügend gereist war, wurde
ein gutes Auto gekauft, die Einrichtung seiner Wohnung erneuert, der örtliche
Tennisclub besucht. Er war ein sportlicher Typ und lernte es schnell, wurde
bald der beste Spieler, weil er seinen Reichtum nicht in seinen Bauch
steckte, war erfolgreich und gefragt.
Unter den Zuwanderern in der Stadt befanden sich
vor allem Leute aus dem ärmeren, östlichen Teil des Landes, Ausländer waren
selten. Ein junges Mädchen fiel ihm auf. Oder vielleicht er ihr? Sie kamen
sich näher, trafen sich häufiger, ein Verhältnis begann. Die Tochter des
Bürgermeisters wurde eifersüchtig, mehrmals kam es zu offenem Streit.
Und dann geschah ein schwerer Unfall in einer
Fabrik, giftige Stoffe wurden freigesetzt, mehrere Leute mussten ins
Krankenhaus gebracht werden, die Fische im nahegelegenen Fluss starben.
Naturschützer aus dem ganzen Land reisten an, organisierten Demonstrationen,
die Presse belagerte das Haus des Betreibers der Fabrik und das
Bürgermeisteramt. Eine unabhängige, überregionale Kommission wurde
einberufen, um die Geschehnisse genauer zu untersuchen.
Diese bestimmten Klauseln in den Verträgen ließen
unseren Helden der Geschichte als Betrüger und Verantwortlichen erscheinen.
Wenn er darüber nachdachte, war das Geld, das er damit verdient hatte,
eigentlich ziemlich wenig gewesen, um ihm den ganzen Skandal in die Schuhe zu
schieben. Als die Gerichtsverhandlung begann ließen ihn sowohl die Tochter
des Bürgermeisters, als auch das junge, hübsche Mädchen wie eine heiße
Kartoffel fallen. Hochverschuldet verlor er den Familienbetrieb. Am Ende zog
er in eine andere Stadt. Nicht weil er sich schämte, sondern weil er hoffte,
dort neu anfangen zu können.
Und dort lernte er die gerade geschiedene Tochter
des Bürgermeisters kennen. ………………………
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Montag, 10. August 2020
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