Donnerstag, 13. August 2020

112) Die große Enttäuschung
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Die große Enttäuschung

Es gab kein Kino in der Stadt, kein Platten- oder Büchergeschäft, keine Jeans oder Turnschuhe in den Kleidergeschäften. Aber da war ein Spielwarenladen. Die Regale des halbdunklen, fast Lagerraumes waren mit großen Schachteln und Kartons gefüllt, auf denen der Inhalt in Darstellungen einer fantastischen Umgebung eingefügt war. Für Mädchen verschiedenste Barbiepuppen auf Partys oder vor dem unendlichen Kleiderschrank, auf Pferden reitend oder in der Kutsche im Hochzeitskleid. Kinderwägen und Babypuppen. Für Jungs Batman, Supermann, ein Bergsteiger, Rallyefahrer auf der Safari mit wilden Tieren, ein Astronaut auf dem Mars.
Die Verkäuferin in dem Laden kannte mich bereits und war nicht gerade erfreut, mich zu sehen, weil ich nie genug Geld hatte, etwas zu erstehen. Heute denke ich, es muss für sie ziemlich deprimierend gewesen sein, dass auch seltene Gäste meistens nichts mitnahmen. Das Geschäft war das Überbleibsel einer Zeit, in der die Leute noch kein Auto hatten, und sich alles im näheren Umkreis besorgten.
Einmal pro Woche also fand ich mich dort ein, bis mir irgendwann eine große Schachtel mit einem Drachenflieger auffiel. Ich zeigte ihr meine offene Hand mit ein paar Geldstücken, worüber sie mir nur höhnisch ins Gesicht lachte und wie eine alte Hexe sagte, dass ich dafür ungefähr hundert Mal so viel brauche.
Dieses Gesicht mit Zentimeter dicker Schminkschicht bedeckt, teils Goldzähne und teils Gebiss, das ihr fast aus dem Mund fiel, wenn sie lachte, entweder stark gefärbte Haare oder gar eine Perücke.
Wahrscheinlich war die Bodenfläche hinter dem nicht so breiten Pult noch erhöht. Meine Stirn reichte gerade bis zur Kante, deshalb konnte ich nicht sehen, was darauf passierte.
Sie beugte sich weit darüber, auf diese Weise erschien ihr Kopf fast genau über meinem. Erschrocken schluckte ich. Sie legte ihre Hand auf meinen Kopf, drehte ihn um hundertachtzig Grad, so dass sich auch mein ganzer Leib mitbewegen musste, wollte er nicht die Verbindung zu seinem Haupt verlieren. Jetzt stand ich mit dem Rücken zum Pult und meine Augen sahen die Tür. Meine Beine fingen die Wirkung eines Schubs von hinten auf, meine Hände verhinderten, dass meine Nase sich an der Glastür plattdrückte.
Lange Zeit ging ich jetzt nicht in das Geschäft. Sie war so freundlich gewesen, die besagte Schachtel in das Fenster zu stellen. Oder war es Sadismus? Der Einmachglaseffekt? Du kannst das Apfelkompott in dem Glas sehen aber kannst es nicht öffnen und den Inhalt genießen. Es lächelt dich nur an!
Der Anblick der Schachtel, oder besser die darauf abgebildete Figur, wie sie so über die Landschaft dahinflog hatte auf mich eine magische Wirkung. Aber mein Geburtstag war gerade vergangen und Weihnachten noch weit. Wie es nehmen und nicht stehlen? Ich fragte alle meine erwachsenen Bekannten und Verwandten. Einige gaben mir auch ein bisschen Geld. Daraus wurde aber nicht hundert Mal so viel. Monatelang lief ich zwischen Schaufenster und möglichen Geldgebern hin und her. Fast endlos schien mir die Zeit, in der die Geldsumme nur sehr zähflüssig wachsen wollte.
Umso näher ich dem Ziel kam, desto ungeduldiger wurde ich. Und dann endlich, bei einem Sonntagsbesuch eines Verwandten war der letzte Rest zusammengekommen. Fast fliegend huschte ich durch die verlassenen Straßen der Kleinstadt. Das Geschäft war natürlich geschlossen. Noch ein Tag! Was für eine Qual! Schlaflos verging die Nacht. Ohne Frühstück wurde der Weg zum Geschäft zurückgelegt.
Es öffnete aber erst um zehn Uhr. Viele, lange Stunden saß ich nun vor der Tür. Weder Regen noch Wind sollten mich vertreiben. Als die Tür geöffnet wurde war ich völlig durchweicht. Frierend und mit zitternden Händen legte ich das Geld auf die Theke. Sie zählte es. Dies dauerte lange, weil darunter sehr viel Kleingeld war. „Na! Haben wir es doch zusammengespart! Das hat aber lange gedauert. Da waren schon ein paar hier, die sich dafür interessierten.“ Ein Schreck fuhr mir durch die Glieder. War es nur noch die Schachtel ohne Inhalt, die da im Schaufenster stand? Schließlich bequemte sie sich doch. Auch von hinten sah sie wie eine Hexe aus, nur der schwarze Rabe fehlte auf ihrer Schulter. Mit einem höhnischen Lächeln kam sie zurück, drückte mir das Paket in die Arme, machte die Tür auf und ich verschwand auf der Straße. Es spielte für mich damals (und spielt für mich auch heute noch) keine Rolle, dass ich keine Rechnung bekam.
Zu Hause angekommen war ich froh, niemanden anzutreffen und begab mich sofort auf mein Zimmer. Nicht einmal die nasse Jacke zog ich aus und begann, den Inhalt der Schachtel zu untersuchen. Rasch war der Drachen zusammengebaut und Männlein mit Sturzhelm wie auf dem Bild in Position gebracht. Ich nahm den ganzen Drachen wie einen Papierflieger in die eine Hand, stellte mich in die Ecke des Zimmers und ließ ihn fliegen. Aber so oft ich es auch versuchte, er fiel wie ein Stein zu Boden. Aus dem Fenster im ersten Stock war das Ergebnis nicht besser. Erschöpft und mit überhitzter Stirn legte ich mich ins Bett.


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