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Die große Enttäuschung
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Die große Enttäuschung
Es gab kein Kino in der
Stadt, kein Platten- oder Büchergeschäft, keine Jeans oder Turnschuhe in den
Kleidergeschäften. Aber da war ein Spielwarenladen. Die Regale des
halbdunklen, fast Lagerraumes waren mit großen Schachteln und Kartons
gefüllt, auf denen der Inhalt in Darstellungen einer fantastischen Umgebung
eingefügt war. Für Mädchen verschiedenste Barbiepuppen auf Partys oder vor
dem unendlichen Kleiderschrank, auf Pferden reitend oder in der Kutsche im
Hochzeitskleid. Kinderwägen und Babypuppen. Für Jungs Batman, Supermann, ein
Bergsteiger, Rallyefahrer auf der Safari mit wilden Tieren, ein Astronaut auf
dem Mars.
Die Verkäuferin in dem Laden
kannte mich bereits und war nicht gerade erfreut, mich zu sehen, weil ich nie
genug Geld hatte, etwas zu erstehen. Heute denke ich, es muss für sie
ziemlich deprimierend gewesen sein, dass auch seltene Gäste meistens nichts
mitnahmen. Das Geschäft war das Überbleibsel einer Zeit, in der die Leute
noch kein Auto hatten, und sich alles im näheren Umkreis besorgten.
Einmal pro Woche also fand
ich mich dort ein, bis mir irgendwann eine große Schachtel mit einem
Drachenflieger auffiel. Ich zeigte ihr meine offene Hand mit ein paar
Geldstücken, worüber sie mir nur höhnisch ins Gesicht lachte und wie eine
alte Hexe sagte, dass ich dafür ungefähr hundert Mal so viel brauche.
Dieses Gesicht mit
Zentimeter dicker Schminkschicht bedeckt, teils Goldzähne und teils Gebiss,
das ihr fast aus dem Mund fiel, wenn sie lachte, entweder stark gefärbte
Haare oder gar eine Perücke.
Wahrscheinlich war die
Bodenfläche hinter dem nicht so breiten Pult noch erhöht. Meine Stirn reichte
gerade bis zur Kante, deshalb konnte ich nicht sehen, was darauf passierte.
Sie beugte sich weit
darüber, auf diese Weise erschien ihr Kopf fast genau über meinem. Erschrocken
schluckte ich. Sie legte ihre Hand auf meinen Kopf, drehte ihn um
hundertachtzig Grad, so dass sich auch mein ganzer Leib mitbewegen musste,
wollte er nicht die Verbindung zu seinem Haupt verlieren. Jetzt stand ich mit
dem Rücken zum Pult und meine Augen sahen die Tür. Meine Beine fingen die
Wirkung eines Schubs von hinten auf, meine Hände verhinderten, dass meine
Nase sich an der Glastür plattdrückte.
Lange Zeit ging ich jetzt
nicht in das Geschäft. Sie war so freundlich gewesen, die besagte Schachtel
in das Fenster zu stellen. Oder war es Sadismus? Der Einmachglaseffekt? Du
kannst das Apfelkompott in dem Glas sehen aber kannst es nicht öffnen und den
Inhalt genießen. Es lächelt dich nur an!
Der Anblick der Schachtel,
oder besser die darauf abgebildete Figur, wie sie so über die Landschaft
dahinflog hatte auf mich eine magische Wirkung. Aber mein Geburtstag war
gerade vergangen und Weihnachten noch weit. Wie es nehmen und nicht stehlen?
Ich fragte alle meine erwachsenen Bekannten und Verwandten. Einige gaben mir
auch ein bisschen Geld. Daraus wurde aber nicht hundert Mal so viel.
Monatelang lief ich zwischen Schaufenster und möglichen Geldgebern hin und
her. Fast endlos schien mir die Zeit, in der die Geldsumme nur sehr
zähflüssig wachsen wollte.
Umso näher ich dem Ziel kam,
desto ungeduldiger wurde ich. Und dann endlich, bei einem Sonntagsbesuch
eines Verwandten war der letzte Rest zusammengekommen. Fast fliegend huschte
ich durch die verlassenen Straßen der Kleinstadt. Das Geschäft war natürlich
geschlossen. Noch ein Tag! Was für eine Qual! Schlaflos verging die Nacht.
Ohne Frühstück wurde der Weg zum Geschäft zurückgelegt.
Es öffnete aber erst um zehn
Uhr. Viele, lange Stunden saß ich nun vor der Tür. Weder Regen noch Wind
sollten mich vertreiben. Als die Tür geöffnet wurde war ich völlig
durchweicht. Frierend und mit zitternden Händen legte ich das Geld auf die
Theke. Sie zählte es. Dies dauerte lange, weil darunter sehr viel Kleingeld
war. „Na! Haben wir es doch zusammengespart! Das hat aber lange gedauert. Da
waren schon ein paar hier, die sich dafür interessierten.“ Ein Schreck fuhr
mir durch die Glieder. War es nur noch die Schachtel ohne Inhalt, die da im
Schaufenster stand? Schließlich bequemte sie sich doch. Auch von hinten sah
sie wie eine Hexe aus, nur der schwarze Rabe fehlte auf ihrer Schulter. Mit
einem höhnischen Lächeln kam sie zurück, drückte mir das Paket in die Arme,
machte die Tür auf und ich verschwand auf der Straße. Es spielte für mich
damals (und spielt für mich auch heute noch) keine Rolle, dass ich keine
Rechnung bekam.
Zu Hause angekommen war ich
froh, niemanden anzutreffen und begab mich sofort auf mein Zimmer. Nicht
einmal die nasse Jacke zog ich aus und begann, den Inhalt der Schachtel zu
untersuchen. Rasch war der Drachen zusammengebaut und Männlein mit Sturzhelm
wie auf dem Bild in Position gebracht. Ich nahm den ganzen Drachen wie einen
Papierflieger in die eine Hand, stellte mich in die Ecke des Zimmers und ließ
ihn fliegen. Aber so oft ich es auch versuchte, er fiel wie ein Stein zu
Boden. Aus dem Fenster im ersten Stock war das Ergebnis nicht besser.
Erschöpft und mit überhitzter Stirn legte ich mich ins Bett.
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Donnerstag, 13. August 2020
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