Dienstag, 4. August 2020

78) Zuhause ist dort, wo man leben kann
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Zuhause ist dort, wo man leben kann

Er saß auf der Veranda des großen, aber leeren und baufälligen Hauses und las das letzte Buch, das aus der riesigen Bibliothek seines Großvaters noch geblieben war. Goethes Faust! Immer wieder ging er von Aufzug zu Aufzug und jedes Mal entdeckte er etwas Neues. Goethe war für ihn Deutschland, er kannte es fast auswendig und hatte nur einen Wunsch, in Deutschland zu leben. Was ihn verunsicherte war bloß, wie ein solches Kulturvolk einem Hitler hatte verfallen können. Sollten Goethe, Schiller und Heine einfach Ausnahmen oder der Versuch die Juden zu vernichten ein Ausrutscher gewesen sein.
Sein Großvater hatte damals für die deutschen Kolonialherren gearbeitet. Diese wendeten die gleiche Taktik an, wie die Engländer oder Franzosen. Sie suchten sich eine von den Eingeborenen unterdrückte Minderheit aus, bildeten sie aus, und ließen von diesen dann die koloniale Schmutzarbeit verrichten. Das bedeutete im Allgemeinen, dass man die Eingeborenen durch eine Minderheit der Eingeborenen kontrollieren und dirigieren ließ. Das System funktionierte perfekt, untere Gesellschaftsschichten halten nicht zusammen, sie treten sich gegenseitig in der Hoffnung, ein bisschen höher zu stehen, als der nebenstehende.
Als nach dem 1. Weltkrieg die Deutschen gegangen waren, kamen die Engländer, aber für die Eingeborenen änderte sich nur die Kontaktsprache zu den Kolonialherren. Sein Großvater wollte natürlich seine Stellung halten, deshalb erlernte er auch die Englische und zur deutschen Bibliothek gesellte sich eine Englische. Der alte Mann war sehr weitsichtig und prophezeite, dass das letztere bleibt. So sollte sein Enkel auch das Angelsächsische lernen. Aber mit Shakespeare konnte er einfach nichts anfangen. Das war ihm zu chaotisch. Es gab Stellen, bei denen man genau aufpassen musste, um zu bemerken, dass die Handlung des Stückes plötzlich auf einen anderen Standort umgezogen war. Es ist richtig, dass auch der Mensch mehr einem vom Wind verwehten Blatt gleicht, als einem tiefverwurzelten Baum, aber gewisse Grundzüge dürfen doch auch dem denkenden Tier zugesagt werden. Zudem ähnelte die in Shakespeare angewandte Sprache mehr dem Kneipenjargon, als der gehobenen des Hofes zum Beispiel von Edmund Spencer. Aber hier auf seiner afrikanischen Veranda schien das alles sehr weit weg.
Wenn er die Nachrichten bei British Broadcast und Radio France Internationale verglich, musste er feststellen, dass die Franzosen ihrem Rousseau und seinen Les Confessions treu geblieben, und weniger geldgierig von wirtschaftlichen Interessen, als die Engländer, geleitet waren.
Seine Vorstellungen über die Amerikaner waren gespalten. Da gab es einen Busch, der einen göttlichen Befehl erhalten haben wollte und dann sofort eine 180 Grad Wendung mit einem Halbschwarzen, der in die Welt hinausposaunte: „We can!“ Aber die Wirklichkeit blieb weiterhin: Amerikanische Soldaten in Nigeria, im Irak und in Afghanistan, die Unterstützung des Staates Israels, wobei Millionen von Palästinensern vertrieben worden waren, obwohl sich Juden und Araber vorher doch wesentlich besser verstanden hatten, als mit den intoleranten Christen, die jedem ihren Glauben aufzwingen wollten.
Dann waren da die Russen, die immer die unterstützten, die gegen die Amerikaner waren. Und die Chinesen, die zwar wenigstens keine nachteiligen Kredite an Länder der dritten Welt vergaben, aber grundsätzlich alle Arbeiten selbst verrichteten und der Bevölkerung des Gastlandes nichts gaben und als Gegenleistung dem Land seiner Bodenschätze beraubten.
Heute gibt es viele, die die alten Kolonialherren vergöttlichten, da seit der Unabhängigkeit Bürgerkrieg herrschte. Besonders wenn Wahlen auf der Tagesordnung standen, war es gefährlich in den nächsten Bezirk zum Markt zu gehen.
Er hatte Archäologie studiert und dabei viel über die alte Kultur Afrikas gelernt, hauptsächlich von ausländischen Forschern, die zwar keine Bodenschätze, aber historische Funde raubten.
Aber umso härter der Bürgerkrieg tobte, desto weniger ließen sich Forscher blicken, die eines ausgebildeten Archäologen mit ausgezeichneten Sprachkenntnissen bedurften. Außerdem war wieder die alte Mehrheit an der Macht, die natürlich noch immer nicht sehr viel über Demokratie und tolerantes Verhalten gelernt hatte, dass Mehrheit nicht bedeutet, alles machen zu dürfen, dass Demokratie nicht die Diktatur der Mehrheit ist, und deshalb alle Minderheiten unterdrückte.
Aus diesem Grund hatte langsam alles verkauft werden müssen, auch seine geliebte Bibliothek, nur Goethes Faust hatte er verstecken und somit retten können. Seine Schwestern waren verheiratet worden, seine Brüder und Eltern waren alle emigriert. Jetzt war er der letzte in dem großen Haus.
Aber diese feige Mehrheit wusste, dass er nun allein hier war, und wurde immer mutiger. Zuerst hatten sie seinen Hund vergiftet, dann Fenster eingeworfen und schließlich den kleinen Schuppen hinter dem Haus angesteckt. Doch, was das Schlimmste war, dass Freunde und Nachbarn sich nicht mehr gern in seiner Gesellschaft zeigten, weil sie Angst hatten, die nächsten Opfer zu sein. Ahnten sie denn nicht, dass sie früher oder später sowieso selbst an die Reihe kommen würden? Worauf hofften sie? Er schämte sich seiner Nationalität. Aber wohin gehen? Und vor ihm erschienen die Bilder aller 5 Brüder, die vor ihm versucht hatten, nach Europa auszuwandern.
Dem ersten hatte man zum günstigen Preis von einer Kuh einen Reisepass gekauft, eine weitere kostete der Visumstempel darin, den die Familie dank ihrer alten Verbindungen ergattern konnte. Er flog also ganz legal nach Europa, wollte dort Arbeit finden, dann seine Situation legalisieren und jeden Monat Geld schicken, um die Familie zu unterstützen. Aber nach Ablauf seines dreimonatigen Visums wurde er von der Polizei zuerst festgenommen, und dann ins Flugzeug gesetzt, das ihn zurückbrachte. Bevor er aber zu Hause hatte ankommen können, überfuhr ihn nachts ein Lastwagen auf der Landstraße.
Der zweite hatte sich, weil er kein Visum bekommen konnte, für eine Menge Geld einem Schmuggler anvertraut, der von sich behauptete, gute Verbindungen bis nach Europa zu haben, und ihm dort sogar zu einem Arbeitsplatz verhelfen könne. Er verdurstete wahrscheinlich in der Sahara.
Der dritte schickte noch eine Karte aus Libyen, aber danach war er verschwunden.
Der vierte saß auf einer Insel vor der europäischen Küste in einem Lager für illegale Einwanderer und wartete auf seine Verhandlung und wahrscheinlichen Rückflug.
Und der fünfte war er. Nachdem der Rest der Familie ins Nachbarland geflohen war, und ihre Tage in einem Flüchtlingslager fristeten, glich das große Haus immer mehr einer Bruchbude, und es blieb ihm eigentlich fast nichts anderes übrig, als es auch zu versuchen. Er hatte so lange wie möglich ausgehalten, wollte seinen Goethe auf der Veranda nicht verlassen, aber jetzt wurde es unerträglich.
Eines Nachts machte er sich dann auf den Weg, oder besser, er schlich sich aus dem Dorf, um nachfliegenden Steinen als Abschiedsgeschenk zu entgehen. Die Veranda hatte er zu Hause lassen müssen, aber der Goethe steckte gut verpackt in seinem Rucksack. In langen schlaflosen Nächten sollte er in immer wieder lesen.
Heute lebt er in Europa, er hatte es geschafft. Von seinen Angehörigen weiß er nichts. Seine Frau ist eine Halbnegerin. Obwohl er heute als Archäologe in einem Museum arbeitet und dort wegen seiner Gewissenhaftigkeit geschätzt wird, ist es ihm nicht vollständig gelungen, sich einzugliedern, weil der Rassismus, zwar stattlich zurückgedrängt wird, doch die ganze Gesellschaft färbt. Normal mit ihm zu sprechen, ist für viele Leute kein Problem, aber auf den Markt geht er nicht gern, sondern kauft lieber im Supermarkt ein. Für die Familie einer weißen Freundin war er problematisch, und die Hand reichen ihm wenige. Seinen Goethe schlägt er nur noch selten auf. Der größte aller Dichter war in den Augen des Einwanderers ein Träumer.


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