78) Zuhause ist dort, wo man leben kann
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Zuhause ist dort, wo man leben kann
Er saß auf der Veranda des großen, aber leeren
und baufälligen Hauses und las das letzte Buch, das aus der riesigen
Bibliothek seines Großvaters noch geblieben war. Goethes Faust! Immer wieder
ging er von Aufzug zu Aufzug und jedes Mal entdeckte er etwas Neues. Goethe war
für ihn Deutschland, er kannte es fast auswendig und hatte nur einen Wunsch,
in Deutschland zu leben. Was ihn verunsicherte war bloß, wie ein solches
Kulturvolk einem Hitler hatte verfallen können. Sollten Goethe, Schiller und
Heine einfach Ausnahmen oder der Versuch die Juden zu vernichten ein
Ausrutscher gewesen sein.
Sein Großvater hatte damals für die deutschen
Kolonialherren gearbeitet. Diese wendeten die gleiche Taktik an, wie die
Engländer oder Franzosen. Sie suchten sich eine von den Eingeborenen unterdrückte
Minderheit aus, bildeten sie aus, und ließen von diesen dann die koloniale
Schmutzarbeit verrichten. Das bedeutete im Allgemeinen, dass man die
Eingeborenen durch eine Minderheit der Eingeborenen kontrollieren und
dirigieren ließ. Das System funktionierte perfekt, untere
Gesellschaftsschichten halten nicht zusammen, sie treten sich gegenseitig in
der Hoffnung, ein bisschen höher zu stehen, als der nebenstehende.
Als nach dem 1. Weltkrieg die Deutschen gegangen
waren, kamen die Engländer, aber für die Eingeborenen änderte sich nur die
Kontaktsprache zu den Kolonialherren. Sein Großvater wollte natürlich seine
Stellung halten, deshalb erlernte er auch die Englische und zur deutschen
Bibliothek gesellte sich eine Englische. Der alte Mann war sehr weitsichtig
und prophezeite, dass das letztere bleibt. So sollte sein Enkel auch das
Angelsächsische lernen. Aber mit Shakespeare konnte er einfach nichts
anfangen. Das war ihm zu chaotisch. Es gab Stellen, bei denen man genau
aufpassen musste, um zu bemerken, dass die Handlung des Stückes plötzlich auf
einen anderen Standort umgezogen war. Es ist richtig, dass auch der Mensch
mehr einem vom Wind verwehten Blatt gleicht, als einem tiefverwurzelten Baum,
aber gewisse Grundzüge dürfen doch auch dem denkenden Tier zugesagt werden.
Zudem ähnelte die in Shakespeare angewandte Sprache mehr dem Kneipenjargon,
als der gehobenen des Hofes zum Beispiel von Edmund Spencer. Aber hier auf
seiner afrikanischen Veranda schien das alles sehr weit weg.
Wenn er die Nachrichten bei British Broadcast und
Radio France Internationale verglich, musste er feststellen, dass die
Franzosen ihrem Rousseau und seinen Les Confessions treu geblieben, und
weniger geldgierig von wirtschaftlichen Interessen, als die Engländer,
geleitet waren.
Seine Vorstellungen über die Amerikaner waren
gespalten. Da gab es einen Busch, der einen göttlichen Befehl erhalten haben
wollte und dann sofort eine 180 Grad Wendung mit einem Halbschwarzen, der in
die Welt hinausposaunte: „We can!“ Aber die Wirklichkeit blieb weiterhin:
Amerikanische Soldaten in Nigeria, im Irak und in Afghanistan, die
Unterstützung des Staates Israels, wobei Millionen von Palästinensern
vertrieben worden waren, obwohl sich Juden und Araber vorher doch wesentlich
besser verstanden hatten, als mit den intoleranten Christen, die jedem ihren
Glauben aufzwingen wollten.
Dann waren da die Russen, die immer die
unterstützten, die gegen die Amerikaner waren. Und die Chinesen, die zwar
wenigstens keine nachteiligen Kredite an Länder der dritten Welt vergaben,
aber grundsätzlich alle Arbeiten selbst verrichteten und der Bevölkerung des
Gastlandes nichts gaben und als Gegenleistung dem Land seiner Bodenschätze
beraubten.
Heute gibt es viele, die die alten Kolonialherren
vergöttlichten, da seit der Unabhängigkeit Bürgerkrieg herrschte. Besonders
wenn Wahlen auf der Tagesordnung standen, war es gefährlich in den nächsten
Bezirk zum Markt zu gehen.
Er hatte Archäologie studiert und dabei viel über
die alte Kultur Afrikas gelernt, hauptsächlich von ausländischen Forschern,
die zwar keine Bodenschätze, aber historische Funde raubten.
Aber umso härter der Bürgerkrieg tobte, desto
weniger ließen sich Forscher blicken, die eines ausgebildeten Archäologen mit
ausgezeichneten Sprachkenntnissen bedurften. Außerdem war wieder die alte
Mehrheit an der Macht, die natürlich noch immer nicht sehr viel über
Demokratie und tolerantes Verhalten gelernt hatte, dass Mehrheit nicht
bedeutet, alles machen zu dürfen, dass Demokratie nicht die Diktatur der
Mehrheit ist, und deshalb alle Minderheiten unterdrückte.
Aus diesem Grund hatte langsam alles verkauft
werden müssen, auch seine geliebte Bibliothek, nur Goethes Faust hatte er
verstecken und somit retten können. Seine Schwestern waren verheiratet
worden, seine Brüder und Eltern waren alle emigriert. Jetzt war er der letzte
in dem großen Haus.
Aber diese feige Mehrheit wusste, dass er nun
allein hier war, und wurde immer mutiger. Zuerst hatten sie seinen Hund
vergiftet, dann Fenster eingeworfen und schließlich den kleinen Schuppen
hinter dem Haus angesteckt. Doch, was das Schlimmste war, dass Freunde und
Nachbarn sich nicht mehr gern in seiner Gesellschaft zeigten, weil sie Angst
hatten, die nächsten Opfer zu sein. Ahnten sie denn nicht, dass sie früher
oder später sowieso selbst an die Reihe kommen würden? Worauf hofften sie? Er
schämte sich seiner Nationalität. Aber wohin gehen? Und vor ihm erschienen
die Bilder aller 5 Brüder, die vor ihm versucht hatten, nach Europa
auszuwandern.
Dem ersten hatte man zum günstigen Preis von
einer Kuh einen Reisepass gekauft, eine weitere kostete der Visumstempel
darin, den die Familie dank ihrer alten Verbindungen ergattern konnte. Er
flog also ganz legal nach Europa, wollte dort Arbeit finden, dann seine
Situation legalisieren und jeden Monat Geld schicken, um die Familie zu
unterstützen. Aber nach Ablauf seines dreimonatigen Visums wurde er von der
Polizei zuerst festgenommen, und dann ins Flugzeug gesetzt, das ihn
zurückbrachte. Bevor er aber zu Hause hatte ankommen können, überfuhr ihn
nachts ein Lastwagen auf der Landstraße.
Der zweite hatte sich, weil er kein Visum
bekommen konnte, für eine Menge Geld einem Schmuggler anvertraut, der von
sich behauptete, gute Verbindungen bis nach Europa zu haben, und ihm dort
sogar zu einem Arbeitsplatz verhelfen könne. Er verdurstete wahrscheinlich in
der Sahara.
Der dritte schickte noch eine Karte aus Libyen,
aber danach war er verschwunden.
Der vierte saß auf einer Insel vor der
europäischen Küste in einem Lager für illegale Einwanderer und wartete auf
seine Verhandlung und wahrscheinlichen Rückflug.
Und der fünfte war er. Nachdem der Rest der
Familie ins Nachbarland geflohen war, und ihre Tage in einem Flüchtlingslager
fristeten, glich das große Haus immer mehr einer Bruchbude, und es blieb ihm
eigentlich fast nichts anderes übrig, als es auch zu versuchen. Er hatte so
lange wie möglich ausgehalten, wollte seinen Goethe auf der Veranda nicht
verlassen, aber jetzt wurde es unerträglich.
Eines Nachts machte er sich dann auf den Weg,
oder besser, er schlich sich aus dem Dorf, um nachfliegenden Steinen als
Abschiedsgeschenk zu entgehen. Die Veranda hatte er zu Hause lassen müssen,
aber der Goethe steckte gut verpackt in seinem Rucksack. In langen
schlaflosen Nächten sollte er in immer wieder lesen.
Heute lebt er in Europa, er hatte es geschafft.
Von seinen Angehörigen weiß er nichts. Seine Frau ist eine Halbnegerin.
Obwohl er heute als Archäologe in einem Museum arbeitet und dort wegen seiner
Gewissenhaftigkeit geschätzt wird, ist es ihm nicht vollständig gelungen,
sich einzugliedern, weil der Rassismus, zwar stattlich zurückgedrängt wird,
doch die ganze Gesellschaft färbt. Normal mit ihm zu sprechen, ist für viele
Leute kein Problem, aber auf den Markt geht er nicht gern, sondern kauft
lieber im Supermarkt ein. Für die Familie einer weißen Freundin war er
problematisch, und die Hand reichen ihm wenige. Seinen Goethe schlägt er nur
noch selten auf. Der größte aller Dichter war in den Augen des Einwanderers
ein Träumer.
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Dienstag, 4. August 2020
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