92) der unangenehme Mensch
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Der unangenehme Mensch
Alle waren in Abendkleidung gekommen, nur er
stand in Shorts, T-Shirt und Badeschlappen da.
Wieder rauchte er demonstrativ seine Zigarette,
dann ging er eilenden Schrittes durch den Saal und schloss mit den Worten
„von diesen Autoabgasen könnte man ja fast ersticken“ das Fenster.
Als der Aperitif serviert wurde, packte er seine
Wasserpfeife aus, um neben dem Alkoholgestank auch die Parfümwolken durch ein
bisschen Haschischduft um sich herum zu verdrängen.
Aus irgendeinem Grund stellte sich ein Moment der
Ruhe ein und bevor es wieder laut werden konnte, schlug er leicht mit einem
Löffel an sein Mineralwasserglas, er trank nämlich keinen Alkohol, um die
Aufmerksamkeit eines jeden Anwesenden auf sich zu richten und sagte mit
erhobener Stimme: „Ich bin ein kommunistischer Agent!“ Er hatte das
eigentlich als einen Witz gedacht, aber als diese Leute ihn mit großen Augen
und erschrockenen Gesichtern ansahen, erschrak er selbst, weil er feststellen
musste, dass diese noch an jene Märchen glaubten.
Viele sitzen ganz vorn, um angeblich am besten zu
sehen und zu hören, aber wahrscheinlich, um eventuell von den Schauspielern
besser gesehen zu werden, oder besonders nah dran zu sein, wenn etwas
Unerwartetes passieren sollte. Die Reicheren auf den Balkonen wollen sich nur
anscheinend verstecken, sie sind die neugierigsten, weil man von dort oben
fast alle Zuschauer sehen kann. Unser unangenehmer Mensch befand sich
irgendwo unten in der Mitte, weil das Gebäude so angelegt worden war, dass
dort die Töne im Zusammenklang am besten zur Entfaltung kommen. An diesem
Abend wurde „Faust“ von Gounod aufgeführt. Wir wissen, dass zum Beispiel
Verdi verschiedene Arien der weiblichen Hauptrolle für eine bestimmte
Sängerin geschrieben hat, so auch Gounod und das macht es für eine andere
besonders schwierig. Als der Sängerin zum zweiten Mal beim höchsten Ton die
Stimme brach, wurde es unserem Unangenehmen langsam zu viel. Außerdem konnte
er den Mephisto nicht hören, eine der schwierigsten Rollen für tiefe
Männerstimmen, weil er zum Beispiel in der Szene in der Kirche ganz hinten
stehend, vor ihm das Orchester, leicht vor ihm links und rechts jeweils ein
Teil des Chors, eingekreist von allen vieren im Mittelpunkt Margarethe, die
tiefsten Töne schallend alle übertönend den erschreckenden Hintergrund bilden
muss. Aber der Sänger, der den Valerian, den Bruder von Margarethe
verkörperte, erledigte seine Aufgabe mit Bravour. Und nun kurz vor dem Ende
der Aufführung wartete unser Skandalöser gespannt auf diese Kirchenszene
gekoppelt mit einem Ballett. Der Tanz schien eine neue Choreographie zu sein,
aber passte eigentlich ganz gut in die ganze Szene, den kritischen Zustand
Margarethes unterstreichend. Mephisto stand im Hintergrund, ein Schatten
versteckte sein Gesicht, es war vollkommen. Der einzige Fehler dabei war,
dass Valerian in Mephisto-Kleidung die Rolle des Mephistos sang. Nach der
Szene traten wie immer die teilnehmenden Sänger vor den heruntergelassenen
Vorhang, um den Applaus des Publikums entgegenzunehmen. Und was musste unser
Unangenehmer da sehen? Es ist lobenswert, wenn sich jemand vertreten lässt,
weil es ein anderer besser macht, aber dass dieser dann die Lorbeeren des
Besseren ernten will, geht zu weit. Oder wollte vielleicht die Theaterleitung
nicht, dass die dummen Zuhörer etwas von dem Schwindel merken? So stand unser
Rebell in Jeans und knallrotem T-Shirt auf und rief, was seine Kehle
aushielt: „Betrug! Ich will Valerian, der den Mephisto sang, Beifall zollen.“
Es war sein Glück, dass dies fast das Ende des Stückes ist, weil es keine
Pause mehr gibt, in der man ihn dann hätte entfernen können. Und die Leute um
ihn herum waren empört, nicht weil sie vom Theater betrogen worden waren,
sondern weil er ihren fehlenden Sachverstand aufgedeckt hatte. Unverstand ist
im Anzug noch peinlicher.
Es ist Samstag und unser Unangenehmer geht
spazieren. Auf den öffentlichen Parkplätzen vor den Häusern waschen sehr
viele Männer ihr Auto. Vor einem neuen und besonders schön geputzten Auto, an
dem der Besitzer (Ich sage absichtlich nicht Eigentümer, weil das in den
meisten Fällen die Bank ist, bis die Schulden nicht ganz beglichen wurden.)
gerade die Felgen poliert, bleibt unser Zyniker stehen und sagt: „Deine Frau
wird eifersüchtig, wenn sie sieht, wie zärtlich du dein Auto streichelst!“
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Sonntag, 9. August 2020
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