96) In welche Richtung geht die Menschheit?
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In welche Richtung geht die Menschheit?
Sie waren gerade vom Baum gestiegen und suchten
mit Stöcken und spitzen Steinen nach essbaren Wurzeln und Knollen, auch
halbverfaultes Aas vertrug ihr Magen. Auf den Bäumen hatte es nur Blätter,
Früchte und ein paar Käfer gegeben. Plötzlich ließ sich ein ohrenbetäubendes
Gebrüll vernehmen, anderswo ein Heulen. Raubtiere! Sie waren gefürchtet und
galten als böse Geister, die beschwichtigt werden mussten.
Der Acker war bestellt und jetzt wartete man auf
das geeignete Wetter. Der Herr des Himmels über Sonne, Mond, und Blitz
schickte Regen, um die Mutter Erde zu befruchten, um die Pflanzen gedeihen zu
lassen. Genau wie der Mann seine Frau befruchtete, woraus dann Kinder
entstanden. Oder das Kalb, das in seinem zweiten Lebensjahr anfing, Milch zu
geben. Vor Raubtieren fürchtete man sich jetzt weniger, weil Mauern gebaut
und Hunde gehalten wurden, sie zu vertreiben. Der Gott des Himmels hatte
einen Sohn, den Oberpriester, den Pharao, den König, den Stärksten oder
Klügsten. Ihm gehörte alles und von ihm hing alles ab. Er führte gegen andere
Gruppen oder Siedlungen Krieg, oder besser gesagt, ließ andere für sich
kämpfen, machte fremde Stämme, die noch ein paar Generationen vorher seine
Brüder gewesen waren, zu seinen Untertanen.
Langsam erwachte der Einzelne, wurde sich
bewusst, dass auch er selbst ein Gott war, wenn die Götter sich schon wie
Menschen benahmen. Er machte sich über sich selbst und seine Hirngespinste
lustig. Jeder hatte die gleichen Rechte. Jeder? Nur die, die schon ein
Bewusstsein entwickelt hatten, oder dazu erzogen worden waren, das war eine
Minderheit. Aber es blieb schwierig, einen Ersatz für Gott und König zu
finden. Grundsätze, mit denen Ich und andere Ichs in eine gemeinsame Richtung
gehen konnten. Aber es gab nur wenige die zur Verteidigung ihres Ichs wie
Socrates auch den Giftbecher ausgetrunken hätten.
Zuerst musste die Frage des Staates gelöst,
Grundlagen in Stein gehauen, Eigentums- und Besitzverhältnisse geregelt
werden. Die Gemeinschaft gestaltete sich zu groß, zu viele verkauften ihr Ich
für ein bisschen Wohlstand und Schutz, nicht einmal Sicherheit, sondern nur
Verschonung. Aber ohne eigene Gedanken entstehen weniger neue Ideen. Die
starke Hierarchie brach den Geist. Das Ich ordnete sich wieder dem Wir unter.
Der Kaiser ersetzte wieder den Gott.
Die Talfahrt sollte noch in tiefere Dunkelheit
führen. Selbst die Kunst, der Ausdruck des Einzelnen erlitt einen Rücktritt,
teilweise war sie sozusagen verboten. Schlechte und gute Geister, die auch
nicht weniger gnadenlos als die Bösen waren, bemächtigten sich der Seele, ein
anderes Wort für den menschlichen Geist oder vielleicht Verstand. Das
Diesseits war ein Jammertal, das eigentliche Leben sollte nach dem Tod
beginnen.
Der Andersgläubige bedrängte das Land, deshalb
musste man lernen und Techniken entwickeln. Erkenntnis macht den Glauben
mürbe. Es gab Leute, die behaupteten, die Erde sei kein Teller, sondern eine
Kugel, die Erde, auf der der Mensch lebe, sei nicht der Mittelpunkt der Welt.
Was für eine Anmaßung! Der Mensch, den Gott zu seinem Ebenbild geschaffen
haben soll, habe irgendwo am Rande des Geschehens seinen unwürdigen Platz
gefunden? Der Zweifel nagte an dem Glauben an eine höhere Macht, ermöglichte
zuerst eine freiere Auffassung des Weltbildes, der Geldwirtschaft und
daraufhin eine Entwicklung des Handels.
Der Einzelne rückte langsam wieder ins
Rampenlicht. Es wurde heller um ihn, er öffnete die Augen und sah. Sollte er
seinem Gesicht trauen, oder sich in seine Höhle zurückziehen? Er wollte nicht
mehr nur das Produkt der Schöpfung sein, sondern sein Geschick selbst
bestimmen. Immer größere Massen eigneten sich Wissen an. Dies war nötig, weil
auch die oben erkannten, dass die Zeit der einfachen Handarbeit zu Ende war.
Wollte eine Macht an der Spitze bleiben, musste sie ihre Untertanen bis zu
einem Grade ausbilden. Damit schaufelte sie sich das eigene Grab. Noch oft
sollte es dieser „Elite“ gelingen, die kleinen Leute gegeneinander
aufzuhetzen, mit Nationalismus, Hass gegen Andersdenkende oder –lebende. Zwei
Schritten in die Freiheit folgte einer zurück. Jede Rückwärtsbewegung führte
zu Pogromen, Holocaust und Krieg.
Langsam geht es vorwärts. Religion und anderer
Aberglaube werden verdrängt, Ämter nicht mehr verkauft, sondern nach
Verdienst und Ausbildung mit Gehalt verliehen. Auch von unten kann man, wenn
noch mit großen Schwierigkeiten, nach oben kommen, Schulen sind kostenlos
oder für alle erreichbar. Anderslebende, wie zum Beispiel Homosexuelle,
nachdem sie zuerst mit Gefängnis oder teilweise gar mit dem Tode bestraft,
oder als Kranke mit Elektroschocks oder Medikamenten gequält, oder zur
genetischen Fehlentwicklung abgestempelt worden waren, können in vielen
Ländern heiraten und Kinder adoptieren. Frauen, Asiaten und Afrikaner sind
hochrangige Politiker oder Staatsoberhäupter in den wichtigsten
Industriestaaten, auch wenn einige diese Entwicklung gerne aufhalten würden,
weil es ihres Erachtens zur Zerstörung von Tradition und Kultur führt.
Und dann kam das Internet, was eine noch bessere
Verbreitung von Wissen ermöglicht. Lügen können nur noch schwer versteckt
bleiben.
Irgendwann wird der kleine Mann den Staat und die
oberen kontrollieren und nicht mehr umgekehrt.
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Montag, 10. August 2020
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