Sonntag, 2. August 2020

63) Sie oder Sie und Er
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Sie oder Sie und Er

Sie kaufte noch schnell Kaugummi, obwohl sie eigentlich nie welche kaute. Ihre Freundinnen machten das, um den Zigarettengeruch zu überdecken, oder wenn sie mit dem Rauchen aufhören wollten, sonst fand sie, dass es wie wiederkäuende Kühe aussieht. Aber sie brauchte es jetzt, weil sie sehr erregt war.
Schon seit Wochen hatten sie sich getroffen, doch heute sollte sie sich erobern lassen. Oder wollte sie ihn für sich gewinnen? Das Ergebnis ist eigentlich das Gleiche, die Probleme beginnen später: Wer entscheidet? Wessen Wille wird erfüllt? Eine Beziehung ist keine demokratische Einrichtung. Die Frage hier ist, wer den anderen mehr liebt, gefühlsmäßig mehr abhängig ist, oder größere Angst hat, den anderen zu verlieren.
Sie war jetzt 27 Jahre alt, ein Teil ihrer Freundinnen und Bekannten war schon verheiratet, eine sogar wieder geschieden, zum Glück hatte es dort keine Kinder gegeben. Auch ihre Mutter hatte sie schon gefragt, wann sie sich endlich um ihre Enkel kümmern könne.
Aber war ihre Mutter wirklich glücklich oder wollte sie damit nur die Probleme ihrer eigenen Ehe vergessen. Ihre Mutter hatte sehr jung geheiratet, das erste Kind war sehr früh gekommen. Über Sex konnte man mit ihr nicht sprechen, weil es tabu war. Sie hätte ihre Mutter gerne gefragt, warum sie mit ihrem Mann nicht mehr in einem Bett schlief, oder wie es am Anfang gewesen war, oder ob es überhaupt schön gewesen sei.
Während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, kam sie dem Treffpunkt immer näher, und auch wenn sie langsam ging, würde sie 5 Minuten zu früh ankommen. Hatte sie nicht gelernt, dass man den Mann mindestens 10 Minuten warten lassen soll, Marilyn Monroe hatte gesagt: „Umso länger sie warten, desto mehr klatschen sie.“ Oder sollte sie vielleicht die Beziehung auf einer ganz neuen Grundlage aufbauen.
Ihr Vater war ein typischer Macho mit ungefähr genauso typischen Komplexen. Der, den sie heute treffen sollte, war ganz anders, ruhiger, fast ein bisschen feminin. Aber er verstand sie besser, als diese sehr männlichen Typen, die mit Frauen kaum etwas anzufangen wissen.
Eine ihrer Freundinnen hatte sich gerade einen Süditaliener geangelt und schwärmte: „Endlich ein richtiger Mann!“ Aber von außen sah die Sache ganz anders aus, einfach ein Tyrann, der sie herumkommandierte, und das berühmte Temperament war nichts anderes als Eifersucht. Ihre Freundin konnte nicht einmal mehr mit Freundinnen ausgehen, und zum Aerobic-Training musste sie in einen Club wechseln, zu dem nur Frauen gehen.
Am Arbeitsplatz gab es sehr witzige, oder vielleicht besser seltsame Situationen. Es war ein großes Bürohaus, der Haupteingang funktionierte automatisch, aber die kleineren Glastüren musste man ziehen und drücken. Oft konnte man die Verwirrung der Männer sehen, wenn sie sich so einer Tür näherten und auf der anderen Seite ihnen eine Frau entgegenkam. Sollten sie jetzt der Frau freundlich die Tür öffnen, dann gab es zwei mögliche Reaktionen: Entweder bedankte sie sich und dachte: „Jemand, der die Frau in mir sieht.“ Oder sie sah ihn wütend an, weil er in ihr nicht den Mitarbeiter sehen wollte. Oder er ging einfach durch, wobei zwei andere mögliche Reaktionen auftraten: Sie sah ihn wütend an, weil er in ihr nicht die Frau respektierte, oder sie gingen gleichgültig aneinander vorbei, weil sie ja „nur“ Kollegen waren.
Die Emanzipation hatte nicht nur Gutes gebracht. Neuerungen führen anfänglich auch immer zu einem Durcheinander, bis beide Teile sich an die neuen Verhältnisse gewöhnt hatten. Manchmal war sie gerne einfach Frau und manchmal lieber vollwertiger Partner.
Sie wohnte allein, seit sie sich von ihrem ersten Freund getrennt hatte. Es gab keine Erwartungen, aber auch niemanden, der am Abend auf sie wartete. Aber dieses Warten hatte meist daraus bestanden, wann das Abendessen endlich auf dem Tisch kam, und im Haushalt hatte er auch nicht so viel geholfen. Jetzt konnte sie kochen, wann sie es selbst wollte. Zur Wahrheit gehörte allerdings, dass sie seit dieser Zeit nur noch selten kochte.
Als ihre Mutter erfuhr, dass die Beziehung zu Ende war, war sie zuerst geschockt, sie meinte, dass ihre Tochter noch lernen müsse, wie man mit einem Mann zusammenleben soll. Dann aber kam die Hasstirade gegen ihren Exfreund: „Wie konnte er dich nur verlassen? Hat der denn kein Herz!“ Ihre Mutter wusste nicht, dass es eigentlich die Entscheidung ihrer Tochter gewesen war, das Zusammenleben zu beenden.
Obwohl ihre Mutter in ihrer Ehe überhaupt nicht glücklich war, konnte sie sich nicht vorstellen, ihren Mann und damit ihr Unglück zu verlassen. Das war für sie das normale Schicksal der Frau, lieber unglücklich zusammen, als unglücklich allein, eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Jetzt hörte sie eine Stimme von außen, er hatte sie angesprochen, sie war angekommen.


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