101) der Jesus
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Der Jesus
Kurz nachdem er an Weihnachten geboren war, -
dies erzählte ihm später seine Mutter – wurde er sofort in die Kirche
gebracht und in die Krippe gelegt, wo er den neugeborenen Jesus verkörperte.
Man hatte ein ruhiges Baby gesucht, das die Messe nicht durch Schreien stören
würde und wunderte sich, mit welcher Geduld er alles über sich ergehen ließ.
Fast himmlisch anmutig wirkte sein Blick, mit dem er auf die anderen
Teilnehmer der Festspiele, die die Hirten und Könige darstellten, herabsah.
Eine große Zukunft wurde ihm vorausgesagt. Woraus diese eines einfachen
Bauernsohns bestehen sollte, wusste keiner genauer zu bestimmen.
Als er dann heranwuchs, meldete er sich immer,
wenn man in der Kirche oder auf dem Marktplatz eine Szene aus dem Neuen
Testament aufführen ließ. Jesus und die Gelehrten, später in der Synagoge,
als er die Händler von dort vertrieben haben soll. Er gefiel sich in dieser
Rolle und hörte gern, wenn Leute, die ihn nicht bei seinem richtigen Namen
kannten, ihn den Jesus nannten. Er versuchte, sogar ein ähnliches Leben zu
führen. Nur mit den Jüngern und den Wundern wollte es nicht so recht klappen.
Jeden Tag traf er beim Pfarrer ein und ließ sich
ein paar neue Einzelheiten aus dem Leben des Messias erzählen. Der Geistliche
war höchst erfreut, endlich einen Gläubigen zu haben, der nicht nur Angst vor
Gott hatte, sondern wirklich gottesfürchtig war.
„Jesus führte die Leute in die Wüste und hieß sie
auf dem Gras niedersitzen.“ Er wusste nicht genau, wie eine Wüste tatsächlich
aussah, aber wenn es dort Gras gab, musste es eigentlich so etwas wie eine
Wiese gewesen sein. Eine größere Menge Sand hatte er nur beim Kapellenbau
gesehen und mehr konnte er sich nicht vorstellen. Aber niemand wollte ihm auf
die Wiese folgen.
„Jesus lief auf dem Wasser.“ Das musste er
erlernen, dachte er bei sich. Damit würde er alle überzeugen. Er ging an den
Fluss, um es auszuprobieren. Wenn man wirklich glaubt, kann man Berge
versetzen. Aber so sehr er es auch versuchte, sich wie Jesus zu geben, zu
handeln und zu leben, immer wieder versank er in dem Nass.
Und dann kamen die jährlichen Passionsspiele.
Jemand wurde gesucht, der die Rolle des Jesus übernehmen würde. Er meldete
sich sofort und wurde sogleich angenommen. Vor allem, weil es keine
Mitbewerber gab. Man musste mit ihm auch nicht sehr lange proben, weil er das
Leben von Jesus ziemlich gut kannte.
Als er auf der Bühne stand, breitete er seine
Hände aus, richtete seinen Blick nach oben und sah aus, wie einer der
Heiligen auf den Bildern in der Kirche. Jede Szene wurde gespielt, aber die
Wunder mit dem Fische- und Brote-Teilen funktionierten auch jetzt nicht.
Zum Glück gab es kein wirkliches Wasser, auf dem er hätte laufen müssen, dies
war nur ein blauer Streifen unten auf der Leinwand. Aber er genoss alle
Momente, man folgte seinen Worten und Bewegungen, er hatte endlich Jünger,
denen er das letzte Abendmahl darbieten konnte.
Doch wunderte es ihn, dass der Schauspieler, der
einen römischen Soldaten darstellte, sich das Ohr nicht wollte abhauen
lassen. Als er gebunden wurde, um vor Pontius Pilatus geführt zu werden,
flüsterte er dem jüdischen Rabi ins Ohr, die Fesseln fester zu ziehen, weil
er wirklich Jesus sei. Die Peitschenriemen schnitten tief in seine Haut, Blut
floss, aber er wusste, dass er die Bewunderung der ganzen Stadtgemeinschaft
hinter sich hatte. (Für diese Darstellung hätte er siebenhundert Jahre später
sicher einen Oscar bekommen.)
Der Stiel des Kreuzes war ein bisschen kürzer,
weil die Bühne höher stand und er dann sowieso fast über den Köpfen der
Zuschauer hing. Er musste es auch nicht so weit tragen, nur ein paar Mal die
wenigen Meter über die Bühne. Als man ihm nach eigenem Wunsch die Nägel durch
die Hände und Füße schlug, pisste und schiss er sich vor Schmerz in seinen
Lendenschurz, bevor er in Ohnmacht fiel. Als er wieder zu sich kam, ließ sich
aus der Menge ein leises Raunen hören. Das passierte eigentlich jedes Jahr
und jeder dort unten beneidete ihn an diesem Tag.
Drei Tage lang hing er nun auf dem Marktplatz,
die meisten Leute waren nach Hause gegangen, um zu essen, trinken und
schlafen. Aber zum Gebet kamen sie alle über den Tag verteilt. Seine Mutter
saß die ganze Zeit unten am Kreuz. Sie wusste nicht, ob sie weinen oder sich
freuen sollte: Dort oben hing ihr Sohn. Aber er spielte nicht so gut wie
Jesus, er starb ein bisschen früher. Als man eine Lanze in seine Seite stieß,
merkte er schon lange nichts mehr.
Dann wurde er herabgenommen und in eine Höhle in
der Nähe der Stadt gelegt. Man wartete auf seine Auferstehung, doch die
wollte nicht kommen. Seine Mutter musste höhnische Blicke und Bemerkungen
ertragen. Ihr Sohn war vielleicht doch kein Jesus?
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Montag, 10. August 2020
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