95) unverständlich
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unverständlich
Eine Familie mit zwei Kindern, der Vater ein
normaler, tüchtiger Handwerker, die Mutter eine Kassiererin in einem
Kaufhaus, die Töchter lernten mit durchschnittlichem Ergebnis in der
Mittelschule. Die Familie mietet eine kleine Wohnung am Rande der Stadt, in
der jede Tochter ihr kleines aber eigenes Zimmer hatte. Mit neunzehn und
zwanzig zogen die Kinder aus, um entweder mit einem Partner zusammen zu sein,
oder allein ein eigenes Leben aufzubauen.
Der Vater kaufte einen Wohnwagen, um seinen
Jugendtraum zu verwirklichen, mit seiner Frau ganz Europa zu durchreisen. Sie
waren jetzt fünfzig, also im besten Alter, verbrachten ihren Sommerurlaub in
ihrem fahrenden Haus in Skandinavien und den Winterurlaub in Griechenland,
Süditalien oder Südspanien. Das hatten sie drei Jahre lang gemacht, als die
Frau an ihrem Arbeitsplatz einen Infarkt erlitt.
Jeden Tag war er im Krankenhaus, brachte ihr
Blumen, wie in der ersten Zeit ihrer Beziehung, las ihr etwas vor, unterhielt
sie oder erzählte ihr über die Pläne für die nächste Reise, die er
schmiedete. Die Ärzte machten ihn darauf aufmerksam, dass seine Frau
ständiger Pflege und Ruhe bedarf. Hieß dies, dass sie nicht mehr reisen
konnten? Den ersten Winterurlaub verbrachten sie zu Hause. An Weihnachten
kamen die Töchter und lobten den Vater, weil sie nicht jeden Tag kommen
könnten, um sich um die Mutter zu kümmern, vor allem weil sie ein eigenes
Leben hatten. Im Sommer fuhren sie mit dem Wohnwagen an die Ostsee, weil er
das fahrende Haus so umgebaut hatte, dass es dafür geeignet war. Einmal ging
es ihr besser, ein andermal schlechter. Manchmal lachte sie auch, besonders
wenn er Witze machte. Aber alles in allem war das Reisen für sie jetzt eine
Qual.
Und dann bekam sie ihren zweiten Infarkt, genau
bei Sonnenuntergang, als sie über eine ein bisschen holprige Strecke fahren
mussten, um einen schönen Standplatz für das Lager zu finden. Er rief die
Rettungswacht. Sie kamen wegen der Straßenverhältnisse mit dem Hubschrauber.
Jetzt wusste er, was er vorher schon geahnt hatte, aber sich nicht
eingestehen wollte. Obwohl seine Frau sehr krank war, wollt sie leben und als
sie im Krankenhaus erwachte und ihn neben sich sah, war sie glücklich und
traurig zugleich. Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie weiterreisten
und dass sie ihn umbringen würde, wenn sie von ihm verlangte, zu Hause zu
bleiben. Als sie jung waren und mit dem Motorrad einen Ausflug machten, hatte
er zu ihr gesagt, dass er nicht in der Wohnung und noch weniger im Bett
sterben wolle. Nie saß er vor dem Fernseher, umging Bücher von weitem, war
sportlich und verbrachte den größten Teil seiner Zeit an der frischen Luft,
schlief selbst im Sommer lieber im Garten, als im Haus.
Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde und
er sie nach Hause brachte, war sie nicht glücklich. Fast dreißig Jahre hatten
sie zusammen verbracht, er war ihr immer treu gewesen, liebte sie, aber sie
sah, wie er in ein paar Wochen wie eine Blume ohne Wasser verwelkte. Und
eines Abends, er kam gerade aus der Garage, weil er dort am Wohnwagen etwas
repariert hatte, sagte sie zu ihm: „Ich kann nicht mehr mit ansehen, wie du
an meiner Krankheit mehr leidest, als ich selbst! Wahrscheinlich ist es das Beste,
wenn du aus meinem Leben verschwindest und wir uns beide die Möglichkeit
geben, mit jemandem anders glücklich zu werden. Oder vielleicht brauchen wir
auch niemanden, um zufrieden und ausgeglichen zu leben. Ich kann nicht aus
deinem Leben gehen, weil ich mich nicht mehr bewegen kann, und sterben will
ich nicht. Ich lege die Bürde der Entscheidung auf deine Schultern.
Danach sprachen sie tagelang nicht miteinander.
Eines Morgens war er dann verschwunden. Niemand wusste, wohin er gegangen
war, oder was er machte. Er hatte den Kontakt zu allen Familienmitgliedern,
Verwandten, Freunden abgebrochen. „Verstanden? Ja, verstanden hätte ihn
sowieso keiner! Und er wusste, dass es keinen Sinn hätte, zu versuchen, es
ihnen zu erklären.“
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Sonntag, 9. August 2020
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